Die Schleier der Salome - Walz, E: Schleier der Salome
und das Volk bekam.
»Die meisten Juden sind einfache Bauern«, erklärte Salome. »Sie leben von Ackerland und Obstanbau, einige auch von Viehzucht. An den Seen leben Fischer, an der Küste die Kaufleute. Doch nicht jeder hat Arbeit. Viele Knechte haben nur zur Aussaat und Ernte zu tun und streifen in der übrigen Zeit auf der Suche nach Anstellung durch das Land. Als Hilfskräfte pflastern sie zum Beispiel Straßen – was miserabel bezahlt wird.«
»Was du alles weißt …«
»Vielen Dank. Du wirst mich allerdings noch verfluchen, denn wir haben viel Arbeit vor uns.«
Das Volk von Jerusalem bereitete Agrippa einen nicht weniger herzlichen Empfang als die Bürgerschaften in den Städten zuvor. Wie er jedoch bereits vermutet hatte, galt es hier, protokollarische Aufgaben zu erfüllen, die nicht auf die leichte Schulter genommen werden durften. Am Fuß des Tempels erwarteten ihn bereits der Hohepriester, die kohen sowie die Tempelaufseher, Kämmerer und Schatzmeister. Ein Chor intonierte Psalmen, das Volk schwieg mit gesenkten Köpfen. Agrippa trat der Priesterschaft entgegen. Zu Füßen des Hohepriesters stand ein Korb mit Früchten und daneben zwei Knaben, die die Aufgabe hatten, ihn die Stufen hoch zum Tempel und dort zum Altar zu tragen, damit Agrippa die Früchte dem Einen Gott als Opfer darbringen konnte. Intuitiv nahm Agrippa den Knaben den Korb ab und trug ihn selbst die Stufen hinauf. Und wieder jubelte das Volk, so dass sogar die Psalmen nicht mehr zu hören waren.
Nach dem Opfer wandte Agrippa sich direkt an die Menschen. Den Tempel im Rücken, die Menschen zu Füßen, hielt er eine Rede. Er versprach, die einst eingestürzte Halle des Sanhedrin wieder aufzubauen, die Steuern maßvoll zu halten und keine Ungerechtigkeit in seinem Königreich zu dulden. Er versprach ein goldenes Zeitalter – und die Menschen glaubten ihm. Agrippa übertraf ihre sämtlichen Erwartungen.
Am Abend, als er mit Salome und der übrigen Familie im prächtigen Herodespalast eintraf, hatte der Jubel noch immer nicht aufgehört. Agrippa platzte beinahe vor Freude und Selbstbewusstsein. »Was soll denn schwierig an diesem Volk sein?«, fragte er. »Es sind wunderbare Menschen.«
Er trat zusammen mit seinem Sohn Agrippinos auf eine Terrasse, genoss ein weiteres Mal den Beifall der Menge und winkte ihr wieder und wieder zu. Dann bat er auch seine übrige Familie zu sich.
Wie oft hatte Salome sich früher gewünscht, ebenso umjubelt zu werden, doch es war ihr nie vergönnt gewesen. Die Versuchung, jetzt neben Agrippa zu treten und ein wenig von seinem Glanz abzubekommen, war groß, denn sie hatte ihren Anteil daran, dass er König geworden war und als Retter Judäas galt. Doch sie vergaß die Worte Efraims nicht: Bleibe verborgen! Sei ein unsichtbarer Geist! Sie musste lernen, damit zu leben, nie wieder in der hellen Sonne der Macht zu stehen, sondern immer nur im Schatten zu dienen.
Salome und Gilead blieben ein Stück hinter Agrippa zurück, um von unten nicht gesehen zu werden.
Der König strahlte über das ganze Gesicht. »Ich bin auf dem Gipfel angekommen, Salome. Auf dem höchsten Gipfel.«
Salome erwiderte nichts, um Agrippa die Laune nicht zu verderben. Sie wusste aber, dass jemand, der auf dem Gipfel stand, vom Abgrund umgeben war.
Natürlich ebbten die Feierlichkeiten und Freudenfeste irgendwann ab. Was blieb, war die Zuversicht der Menschen, dass alles nun besser würde, und ein großes Interesse an den Entscheidungen, die der König traf. Einerseits versprach diese Aufmerksamkeit des Volkes eine schwungvolle Beteiligung in der Umsetzung etwaiger Maßnahmen, andererseits lag eine umso schwerere Verantwortung auf Agrippa. Wie sollte er die Probleme lösen? Und welche sollte er lösen? Wo durfte er reformieren und wo lagen die Stolperfallen? Wenn er bei kniffligen Fragen nicht weiter wusste, fragte er Salome um Rat und ließ sich von ihr auch gerne auf neue Ideen bringen. Ihre Besprechungen hielten sie nie vor dem Hohepriester, dem Schatzmeister oder anderen Beamten ab – Agrippa wollte Selbständigkeit beweisen. Salome vermutete noch einen weiteren Grund, dass es ihm nämlich peinlich war, von einer Frau beraten zu werden, noch dazu von einer Nichte. Meistens also kamen sie am Vorabend seiner Besprechungen zusammen, was zweimal wöchentlich geschah. Ausreichend Zeit für Salome, nach Missständen Ausschau zu halten und Verbesserungen vorzuschlagen.
»Du solltest dir einmal die Monopole ansehen,
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