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Die Schleier der Salome - Walz, E: Schleier der Salome

Die Schleier der Salome - Walz, E: Schleier der Salome

Titel: Die Schleier der Salome - Walz, E: Schleier der Salome Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eric Walz
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wünschte sie sich schlicht, er käme im nächsten Moment zur Tür herein, strahlte sie an und gäbe ihr eine banale Erklärung dafür, weshalb er sich seit vier Jahren nicht habe blicken lassen, obwohl er ihr seine Freiheit verdankte. Schämte er sich für seine Tat? Glaubte er, sie könne ihm den Anschlag auf Akme nicht vergeben? Manchmal sorgte sie sich um ihn, hoffte, dass ihm nichts geschehen sei, und manchmal geriet sie wegen seines enttäuschenden Verhaltens regelrecht in Zorn. Und dann gab es Tage, da glaubte sie nicht mehr daran, dass er sie jemals geliebt habe und dass er deshalb nach seiner Freilassung durch Coponius aus dem Gefängnis von Caesarea nicht mehr den Weg zu ihr gesucht hatte. Alles in ihr sträubte sich gegen einen solchen Verdacht, trotzdem gewann er bisweilen die Oberhand, und das waren die schlimmsten Stunden für sie.
    Der dunkle Klang eines shofar dröhnte über den Palast und ganz Ashdod. Während des vergangenen Monats war das traditionelle Widderhorn, das Moses einst auf dem Berg Sinai hörte, zu jeder Stunde des Tages zwölfmal geblasen worden, so wie der jüdische Brauch es vorsah. Heute erklang es vorläufig zum letzten Mal, denn heute war der erste Tag des Monats Tishri und damit rosh ha-shana , das Neujahrsfest. Die Juden der Stadt hatten sich schon am frühen Morgen in den sieben Synagogen versammelt und stundenlang Vergebungsgebete gemurmelt.
    Das shofar war verklungen, und draußen wurde es wieder ruhig. Der schwache Herbstwind wehte einige welke Blätter von den Granatapfelbäumen und Platanen, und ein paar Vögel raschelten auf der Suche nach Nahrung im knöcheltiefen Laub. Kein Mensch war zu sehen. Rosh ha-shana war kein Fest der fröhlichen Geselligkeit wie die anderen im Jahreskreis, sondern ein Fest der Einkehr. Von hier oben konnte Salome es nicht sehen, da ein naher Kiefernwald die Sicht versperrte, aber sie wusste, dass zu dieser Stunde unten am Strand alle Juden von Ashdod ein geschnürtes Tuch ins Meer werfen würden, in das sie zuvor alle ihre Sünden gesprochen hatten. Zu Hause kochten bereits die Frauen die typischen Speisen des Neujahrstages. Der Duft von Honigkuchen lag über der ganzen Stadt, und die Palastköche bereiteten gesottenes Huhn mit Honig und Orangensoße zu, wie Salome unschwer den Aromaschwaden entnehmen konnte. Sie schloss ihre Augen, und ein schwaches Lächeln glitt über ihr Gesicht.
    »Verträumt wie immer«, rief Herodias, als sie ohne Anmeldung das gyneikon betrat. »Selbst an einem Festtag verkriechst du dich hinter deinen Studien. Also wirklich, Salome. Neujahr ist doch nur einmal im Jahr.«
    Sie trug eine himmelblaue Tunika mit einer blassgelben stola und einem schillernden goldfarbenen Umhang, der so lang war, dass er auf dem Boden schleifte. An ihren Armen klimperte der schwere Goldschmuck, der einst Akme gehört hatte und den sie nach deren Tod zwar nicht geerbt, dennoch an sich genommen hatte, offenbar mit stillschweigender Billigung von Coponius.
    Salome verbeugte sich leicht. » Le-shana towa tikatewu wetechatemu «, begrüßte sie ihre Mutter.
    »Mögest auch du ein gutes Jahr haben«, erwiderte Herodias eilig. »Nun sag, warum langweilst du dich hier?«
    »Ich langweile mich nicht, Mutter.«
    Herodias’ Blick glitt über die Schriftrollen von De Republica , weiter zum Corpus , den medizinischen Schriften des griechischen Arztes Hippokrates, und schloss mit Vergils Aeneis . »Dass du die Beschäftigung mit Toten noch immer als Vergnügen ansiehst …« Sie seufzte. »Möchtest du dich nicht mir und meinen Freundinnen anschließen?«
    Salome kannte die Schar jener wie Opium duftender und wie Gänse schnatternder Damen, die wenigstens zweimal wöchentlich in den Palast kam. Theudion hatte zwar kürzlich versucht, diese – wie er sie nannte – leichten Frauen aus dem Palast zu verbannen, aber Herodias hatte sich seiner Weisung widersetzt und ihm klargemacht, dass sie ebenso Regentin sei wie er und daher das Recht habe, einzuladen, wen sie wolle. Seine Befehle kümmerten sie nicht mehr, und Salome gönnte ihrer Mutter diesen Triumph. Dennoch, die Begleiterinnen mochte sie ebenso wenig wie ihr Vater.
    »Ein anderes Mal vielleicht«, wiegelte sie ab, setzte sich wieder an den Schreibtisch und suchte nach einer diplomatischen Begründung für die Absage, als die uralten Traditionen sie einer Rechtfertigung enthoben. Das shofar dröhnte laut und dunkel über dem Palast.
    Herodias hielt sich beide Ohren zu. »Oh, dieses Horn! Es treibt

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