Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die schlimmsten Dinge passieren immer am Morgen

Die schlimmsten Dinge passieren immer am Morgen

Titel: Die schlimmsten Dinge passieren immer am Morgen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Brenner
Vom Netzwerk:
Penisneid. Urerlebnis. Die ganze Palette. Wenn man dieses wunderbare Spektrum an psychologischen Möglichkeiten sieht …« Er begann wieder, an den Fingernägel zu kauen. »Dann kommt man sich ganz klein, ganz unbedeutend und flach vor.«
    »Hast du schon erzählt, dass du an den Fingernägeln kaust?«, wollte Pfeifenberger wissen.
    »In den ersten fünf Minuten. Sie hat gelacht und mir ihre Nägel gezeigt. Abgekaut bis aufs Nagelbett. Damit kann man meine Analytikerin nicht beeindrucken. Da müssen schon ganz andere Kaliber her. Am schlimmsten ist die Traumanalyse. Sie verlangt von mir, dass ich ein Traumtagebuch führe. Natürlich tue ich es. Aber ich habe richtiggehend Angst, es ihr zu zeigen. Lauter belanglose Träume: Ich vergesse, den Müll rauszubringen. Ich verliere meinen Wohnungsschlüssel. Keinen Joghurt im Kühlschrank. Wenn ich ihr damit komme, meldet sie mich der Krankenkasse, und die Kostenübernahme wird gestrichen. Es ist furchtbar. Ich träume nachts davon, dass ich ihr mit einem gänzlich leeren Traumtagebuch gegenüberstehe.«
    »Das ist es doch!«, jubelte Schmalenbach. »Das genau ist dein Metaproblem. Die Angst, keine psychoanalytisch vorzeigbaren Träume zu träumen. Eine komplizierte Versagensangst.«
    »Ich hatte auch mal so ein Tief«, erinnerte sich Pfeifenberger. »Ich träumte einfach nichts. Meine Analytikerin wurde immer ungeduldiger. Sie wollte mich schon an die Telefonseelsorge der Caritas abgeben. Dann passierte es. Eines Nachts träumte ich, dass ich mich in einem Reisebus auf dem Weg in den Harz befinde …«
    »Das sind ja schwindelerregende Abgründe«, feixte Schmalenbach.
    »Wart’s ab! Im Bus saß eine ganze Abiturklasse. Achtzehn-, neunzehnjährige Mädchen. Eins knackiger als das andere. In superkurzen Minis. Und ich war der allseits umschwärmte Deutschlehrer … Die Mädchen wollten alle neben mir sitzen. Sie waren ganz verrückt nach mir. Und da passierte es. Ich merkte im Traum, dass ich träumte. Versteht ihr? Es wurde mir schlagartig klar, dass die Situation folgenlos für mich war. Ein Traum eben. Sonst nichts. Kein Disziplinarverfahren. Keine Entfernung aus dem Schuldienst. Keinen Stress mit Carola. Vergnügen ohne Reue eben.«
    Germersheimer machte ein gequältes Gesicht. »So was möchte ich meiner Analytikerin nicht zumuten, Pfeifenberger. Das verstehst du doch, oder?«
    Pfeifenberger schmollte. »Mann, das ist psychoanalytisches Neuland. Freud hätte gejubelt. Aber wenn du nicht willst …«
    Schmalenbach fiel etwas ein. »Apropos. Seit Jahren träume ich den gleichen Traum. Es erreicht mich ein amtliches Schreiben. Man hat festgestellt, dass etwas mit meinem Abiturzeugnis nicht stimmt. Ein Formfehler. Man muss mir die Reifeprüfung nachträglich aberkennen. Es bleibt mir nichts anderes übrig: Ich muss im Alter von siebenundvierzig Jahren das Abitur nachmachen. Bis zur Prüfung bleiben mir nur drei Tage. Blöder Traum, was?«
    Germersheimer starrte ihn entgeistert an. »Wahnsinn. Absoluter Wahnsinn!«
    »Nicht schlecht!«, fand auch Pfeifenberger. »Stell dir vor, du trittst zur Prüfung an – und findest dich mitten in einer Mädchenklasse. Achtzehn-, neunzehnjährige knackige Mädels in superkurzen Minis. Alle sind heiß auf dich, und du merkst plötzlich: Es ist nur ein Traum …«
    Germersheimer sprang auf. »Schmalenbach, schenke mir deinen Traum!«
    Schmalenbach wurde verlegen. »Ich weiß nicht. Träume sind doch etwas sehr Persönliches.«
    Germersheimer drängte so lange, bis Schmalenbach nachgab. Auf dem Bierdeckel skizzierten sie einen Überlassungsvertrag für Schmalenbachs Traum. Alle drei unterschrieben. Als Lizenzgebühr wurden sechs Weizenbiere vereinbart. Die Zahlung erfolgte auf der Stelle.
     
    Wenige Tage später begegneten sich Germersheimer und Schmalenbach zufällig auf dem Eisernen Steg. Germersheimer war auf dem Weg zur Analytikerin. »Sie war begeistert und hat gleich zwei Sondersitzungen angesetzt. Man lädt sie jetzt zu Kongressen und Vorträgen ein. Danke, Schmalenbach, dein Traum hat mein Ego gerettet.«
    Schmalenbach war ein wenig stolz. Aber er blieb gelassen: »Dennoch solltest du dich um einen eigenen Traum bemühen, Germersheimer. Das ist wichtig für dein Selbstbewusstsein. Man kann nicht ewig von den Träumen anderer zehren.«
    Da wurde Germersheimer richtig wütend. »Ich habe sechs Weizenbiere dafür bezahlt. Rechtlich ist es längst mein Traum.« Mit diesen Worten lief er davon.
    Germersheimer machte in diesen Tagen

Weitere Kostenlose Bücher