Die schlimmsten Dinge passieren immer am Morgen
gerecht zu sein, muss man dazu sagen, dass er auch kaum veröffentlicht wurde. Oder Manderscheid. Er trieb jeden Tag eine andere Sau durch die Stadt. Ein Medienakrobat. Aber im großen Buch würde er nicht mal eine Fußnote abgeben.
Schmalenbach sah sich selbst als literarischen Hausfreund. Als einen, der Höhen und Tiefen der menschlichen Existenz durchschritten und aus diesem Wechselbad mit einer gewissen Weisheit hervorgegangen war – ohne Bitterkeit, aber mit dem Wissen um die Blamagen der Spezies. Im Grunde gab es nur diesen Weg. Er musste schreiben. Das war seine Berufung.
Schmalenbach wartete, bis Elke weg war, meldete sich krank und setzte sich an den Computer. Die Tatsache, dass ihm die Sache leicht von der Hand ging, zeigte, dass er auf dem richtigen Weg war. Seine Geschichte schrieb er so sicher nieder, als würde er sie in Stein meißeln. Sie handelte von einem Mann im Alter Schmalenbachs, der in einem Viertel wohnte, das dem Frankfurter Nordend ähnelte. Er verließ morgens das Haus, das an das von Schmalenbach erinnerte, schlenderte die Straße entlang, begegnete unbedeutenden Menschen, die ihn um Geld anhauten oder ihn mit ihren Frauengeschichten belästigten. Der erste war ein am Dreißigjährigen Krieg tragisch gescheiterter Literat, der zweite ein verkrachter Cartoonist. Strandgut des Lebens eben.
Schmalenbachs Held zog es weiter. In Richtung Supermarkt. Seine Frau hatte einen verhängnisvollen Hang zu Nudelgerichten – und dementsprechend sah auch sein Einkaufszettel aus. Dann plötzlich: der Einbruch des Poetischen in den Alltag des Protagonisten. Dies geschah mit einer Raffinesse, zu der sonst nur Autoren fähig waren, die sich ein halbes Leben lang mit diesen Problemen herumgeschlagen hatten. »Der Umschlag vom Normalen ins Bemerkenswerte«, wie Schmalenbachs Kleiner Ratgeber für literarische Höhenflüge (6,90 Euro) das so treffend nannte, kam in Gestalt einer jungen Frau auf dem Fahrrad.
Die junge Frau hatte eine Tasche auf dem Gepäckträger. Als sie über den Bordstein fuhr, fiel die Tasche herunter. Die junge Frau fuhr achtlos weiter. Schmalenbachs Protagonist stürzte zum Bordstein, bückte sich, »barg das Fundstück« (so klang Schmalenbachs ebenso knapper wie poetischer Duktus) und rannte damit der Frau auf dem Fahrrad hinterher.
Nun zeigte sich erst die reife Könnerschaft des spätberufenen Autors. Jeder andere, minder begabte Kollege hätte der Versuchung nicht widerstanden, den Protagonisten mit dem Nudelauftrag und die gedankenlos radelnde Schönheit so schnell wie möglich zusammenzuführen. Nicht so Schmalenbach. Dieser unbekannte Meister der stilvollen Verzögerung enttäuschte gekonnt die Erwartung seiner Leser. Er ließ nämlich – und nun halten Sie sich fest! – einen Bus der städtischen Verkehrsbetriebe zwischen die beiden Protagonisten fahren. (»Nichts ist effektiver als ein voll besetzter Bus, der plötzlich mitten ins Geschehen fährt«, sagte der Kleine Ratgeber und verwies auf einschlägige Stellen bei Maupassant und Kafka.) Doch damit gab sich Schmalenbach nicht zufrieden. Dem Bus entstieg eine Erscheinung, die das krasse Gegenteil unserer grazilen Radfahrerin war – eine Frau, die den Gang der Geschichte grundlegend ändern konnte. Sie war eine Attraktion. Passanten blieben stehen, BMW-Fahrer bremsten, ein Ehepaar geriet ihretwegen in einen heftigen Streit. Sie trug ein knappes Trikot, sie betrieb Bodybuilding, sie kam aus Darmstadt, und sie hieß Tanja.
Tanja stürzte auf den Protagonisten zu. Sie hielt ihn am Ärmel fest, sie bedrängte ihn geradezu. Sie litt unter der seit Tagen andauernden Hitze, sie brauchte was zu trinken – und sie war enttäuscht. Von einem Fünfkämpfer, der ihr die Ehe und noch einiges mehr versprochen und sie eine Nacht lang ganz schön ausgenutzt hatte. Tanja war tief unten – und sie verlangte nach Zuwendung, das war klar.
Doch unser Held setzte seinen Weg unbeirrt fort. Und wir gewinnen ihn langsam lieb. Ja, Schmalenbach wusste, wie man so was machte.
An der nächsten Kreuzung holte der beherzte Individualist die Fahrradfahrerin ein. Sie ahnte immer noch nichts von dem, was hinter ihr vorging. Doch was spielten solche psychologischen Finessen für eine Rolle in diesem archaischen Spiel? (»Boy meets girl«, riet der Kleine Ratgeber, und er hatte ja so Recht.)
Was erwarten wir nun? Dass sich beide in die Augen schauen, dass sie einander erkennen, dass sie sich an der Hand nehmen und davongehen in eine gemeinsame
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