Die schlimmsten Dinge passieren immer am Morgen
Zukunft. Schmalenbach war anders. Schmalenbach war the lost generation, eine Spur Thomas Bernhard, ein Spritzer Houellebecq – und doch ganz er selbst. Schmalenbach zog alle auf seine Seite und stieß sie gleichzeitig ab: Sein Protagonist überreichte der Frau auf dem Fahrrad die verlorene Tasche. Sie schauten sich in die Augen. Ja, sie erkannten einander, so konventionell war Schmalenbach, der einsame Jäger. Dann aber setzte sich der literarische Anarchist durch. Er vollführte ein narratives Kunststück. Schmalenbach ließ diese beiden Menschen in wenigen Sekunden alles das durchleben, was ihnen blühte. In einem furiosen inneren Dialog. Sexuelle Ausbrüche, intensive Gespräche danach, die Leere, wenn alles gesagt war und man lieber allein an einer Imbissbude im Industriegelände stünde, Alkoholexzesse, Kater, Prostatabeschwerden, schlechtes Gewissen, Mundgeruch, bohrende Fragen, eigenartige Animositäten, dumme Gewohnheiten. Es gab zwischen ihnen eine seltene Symmetrie in den Elementarteilchen der Hypophysen. Eine quantenmechanische Banalität. Aber hinreißend beschrieben von Schmalenbach in seiner quasi-wissenschaftlichen Prosa. Und dann erst die lakonische Trennung. Cinema pur. Blick von oben. Beide gehen davon. In verschiedene Richtungen. Sie fährt in Richtung Hauptbahnhof. Was sie mit der Tasche dort abholt oder abliefert, lässt Schmalenbach, der literarische Taschenspieler, offen. »Große Literatur wird aus Leerstellen gemacht«, behauptete der Kleine Ratgeber.
Schmalenbach brachte den Text zu Manderscheid. Manderscheid überflog ihn und fragte: »Was ist mit der Rechtschreibung? Alt oder neu?«
»Ich habe 1974 Abitur gemacht.«
»Verstehe!«, sagte Manderscheid. »Ich werde versuchen, den Text in HR2 unterzubringen. Aber Hoffnungen mache ich dir nicht.«
Am nächsten Tag war er auf Schmalenbachs Anrufbeantworter. »Folgendes, alter Junge: Irgendwas Volkstümliches in Frankfurter Mundart ist ausgefallen, weil der Autor einen Autounfall an der Côte d’Azur hatte. Jetzt schieben sie deinen Text ein. Für einen Anfänger ist das doch eine schöne Sache. Der Kerl mit dem Autounfall macht das seit dreißig Jahren.«
Schmalenbach nahm die Mitteilung hin wie einen lapidaren Kalenderspruch.
Am Tag der Sendung wachte er morgens auf und stellte an sich keinerlei Aufregung fest. Er hielt es auch nicht für nötig, Elke zu informieren. Es genügte, wenn sie durch mehrseitige Homestorys in ihren Frauenzeitungen von seinem Ruhm in den literarischen Salons zwischen Warschau und New York erfuhr. Oder noch besser: durch einen in einer Talkshow sich ereifernden Marcel Reich-Ranicki, der ihren Lebensgefährten in einem wahren Schlachtfest an verbalen Entgleisungen hinrichtete – und damit unsterblich machte.
Schmalenbach wollte sich nicht davon abhalten lassen, sein Schaffen fortzusetzen. Schließlich wartete die Welt ab heute Abend 22 Uhr 45 auf ein neues Meisterwerk von Schmalenbach, dem Cechov aus dem Frankfurter Nordend. Bevor er sich an den Computer setzte und sich in die nächste Schreibekstase stürzte, wollte er jedoch anständig frühstücken.
Vor der Bäckerei wurde er von einem Fahrrad überholt. Eine auf dem Gepäckträger etwas leichtsinnig befestigte Tasche fiel herunter. Schmalenbach bückte sich, die Fahrerin blieb stehen – es war seine, es war Schmalenbachs literarische Schöpfung. Bis aufs Haar.
Um die beiden herum versank das Nordend im Nichts. Es gab nur noch diesen Mann und diese Frau. Schmalenbach ergriff die Tasche, das Symbol ihrer Zusammengehörigkeit. Er wollte damit auf die Schöne zugehen. Sie freudig begrüßen. Sie umarmen. Aber Schmalenbach kam nicht hoch. Er war wie gelähmt. Er hatte die verlorene Tasche (toller Titel: Die verlorene Tasche, da schlummerte ein Mysterium) schon in der Hand – aber er konnte sich nicht mehr bewegen. Der Rücken. Ein Hexenschuss. Ausgerechnet jetzt. Der Schmerz trieb ihm Tränen in die Augen.
»Was ist denn nun?«, fragte die Frau – seine Frau. »Wird das heute noch was?«
Schmalenbach hob die Hand. Eine Geste, die selbst er nur schwer in Worte würde fassen können. »Ich hab nicht ewig Zeit«, sagte die Schöne trotzig.
Als der Schmerzensmann sich nicht rührte, stieg sie unwillig vom Rad, trat näher, nahm ihm die Tasche ab – und radelte grußlos davon. Schmalenbach sah noch, wie sie an der Ampel anhielt, ihr Rad abstellte und einen vierschrötigen Kerl mit Zungenkuss begrüßte.
Eine halbe Stunde später kam Schmalenbach mit Hilfe
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