Die Schlüssel zum Königreich 01 - Schwarzer Montag
Minute nach Mitternacht, Montagmorgen.
Vom Fenster her kam ein Geräusch, ein Kratzen wie von einem Zweig, der über das Glas scheuerte. Aber es gab keinen Baum im Garten, der nahe genug am Haus stand, um an Arthurs Schlafzimmerfenster zu reichen.
Arthur setzte sich auf und knipste das Licht an; sein Herz schlug plötzlich wie wild. Das Luftholen fiel ihm schwerer, und seine Atemzüge wurden kürzer.
Reiß dich zusammen! dachte er verzweifelt. Bleib ru hig. Atme langsam. Sieh zum Fenster.
Er sah hin, fuhr erschrocken zurück und fiel auf der anderen Seite aus dem Bett. Direkt vor seinem Fenster hing ein geflügelter Mann in der Luft, fast zwanzig Meter über dem Erdboden. Ein hässlicher, vierschrötiger Kerl mit hängenden Backen und einem Gesicht wie ein Bluthund. Ein hundegesichtiger Mann. Selbst die Federn seiner heftig schlagenden Flügel wirkten hässlich und zerzaust, schmutzig grau in dem Licht, das sich aus Arthurs Zimmer nach draußen ergoss.
Er trug einen sehr altmodischen dunklen Anzug und hielt eine Melone in der Hand, mit deren Krone er leicht ans Fenster klopfte.
»Lass mich rein!«
Die Stimme klang verzerrt durch das Glas, aber sie war tief und heiser und voller Bedrohung.
»Lass mich rein!«
»Nein«, flüsterte Arthur, wobei ihm sämtliche Vam pirfilme durch den Kopf schossen, die er je gesehen hat te. Dies war kein Vampir, aber er bat darum, hereingelassen zu werden. Vielleicht galt also dasselbe Prinzip: Er konn te nicht hereinkommen, wenn man ihn nicht dazu aufforder te. Obwohl sie in den Filmen für gewöhnlich jemanden hypnotisierten, um hereingelassen zu werden …
Die Schlafzimmertür ging auf.
Arthur gefror das Blut in den Adern. Jemand war schon hypnotisiert worden! Sie würden das hundegesichtige Wesen hereinlassen …
Eine lange gespaltene Zunge schob sich, hin und her zuckend, um die Tür und prüfte die Luft. Arthur griff sich das Lexikon, das er neben dem Bett liegen gelassen hatte, und hob es hoch über den Kopf.
Ein schuppiger Kopf folgte der Zunge, dann ein klauenbewehrter Fuß. Arthur ließ das Lexikon halb sinken. Es war der Komodowaran aus Keramik, nur dass er nicht mehr aus Keramik war, oder vielleicht doch, sondern lebendig und sich geschmeidig bewegte.
Langsam kletterte Arthur aufs Bett zurück und drückte sich gegen die Wand, das Lexikon wurfbereit in der Hand. Auf wessen Seite stand der Waran?
»Lass mich rein!«
Die große Echse zischte und rannte schockierend schnell los. Vor dem Fenster bäumte sie sich auf und riss den Rachen auf. Ein strahlend weißes Licht, so intensiv wie von einem Suchscheinwerfer, schoss daraus hervor. Der hundegesichtige Mann schrie auf und ruderte mit den Armen, und seine Melone segelte durch die Luft davon. Schreiend und mit wild schlagenden Flügeln taumelte er zurück und verschwand in einem spiralförmigen pechschwarzen Rauchstoß.
Die Echse ließ das Maul laut zuschnappen, und im selben Moment verschwand das intensive weiße Licht. Dann zog sich das Reptil langsam vom Fenster zurück und trottete schwerfällig ans Ende von Arthurs Bett, wo es stehen blieb und in seine übliche Positur verfiel. Seine Haut kräuselte sich, als ob jeder Muskel plötzlich unter Strom stünde; dann bewegte sich nichts mehr: Der Komodowaran war wieder zur unbelebten Keramikskulptur geworden.
Arthur ließ das Lexikon fallen, griff nach seinem Inhalator und nahm ein paar tiefe Züge. Als er zur Tür ging, um sie zu schließen, stellte er überrascht fest, dass seine Beine zitterten und ihn kaum tragen konnten. Auf dem Rückweg tätschelte er den Kopf des Warans und überleg te kurz, ob er die Hand hineinstecken sollte, um festzustellen, ob der Schlüssel und der Atlas noch dort waren. Aber das konnte auch ganz gut bis zum nächsten Morgen warten.
Wieder im Bett, schaute Arthur noch einmal auf die Uhr, bevor er die Decke hochzog. Gewiss war es kein Zufall, dass dies gleich mit Anbruch des Montags geschehen war.
Das verspricht ein interessanter Tag zu werden, dach te er. Er drehte sich bewusst vom Fenster weg, um nicht in Versuchung zu geraten und wieder hinauszusehen, dann schloss er die Augen.
Das Licht ließ er brennen.
K APITEL V IER
A
rthur freute sich nicht auf die Schule – noch viel weniger als sonst. Nach dem Vorfall in der Nacht waren ihm nur kurze Momente des Schlafs beschieden gewesen. Jede Stunde oder so war er, einer Panik nahe, mit stoßweise gehendem Atem aufgewacht, nur um festzustellen, dass das Licht noch
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