Die Schlüssel zum Königreich 04 - Rauer Donnerstag
zersetzt hat?«
Doktor Scamandros schürzte die Lippen; um die Turmtätowierungen auf seinen Wangen bildeten sich Baugerüste.
»Ich weiß es nicht. Ein Speer oder ein Schwert aus Silber würden ihm nicht bekommen, nehme ich an, und wie alle Nichtlinge wird er nicht freiwillig Salz essen, aber nur niedere Nichtlinge erleiden durch Silber ernsthafte Wunden oder können mit Salz vertrieben werden.«
»Braucht er Schlaf?«, fragte Blatt weiter. »Und wird er Arthurs Tasche bei sich haben, oder wird er sie sonst wo aufbewahren?«
»Gute Fragen, hervorragende Fragen«, murmelte Scamandros. »Ich fürchte, meine Quellen geben keine Auskunft darüber, ob er schläft, aber es ist durchaus möglich. Ich vermute, er wird die Tasche in der Nähe seines Unterschlupfes verstecken – aber auch in diesem Punkt sind meine Informationen bedauernswert lückenhaft.«
»Und haben Sie eine Idee, wo dieser Unterschlupf sein wird?«, wollte Blatt wissen. »In Arthurs Haus?«
Zwei kleine Staubwolken auf Scamandros’ Wangen wuchsen zu Miniaturwirbelstürmen an und bedrohten ein Haus, das quer über seinen Nasenrücken tätowiert war.
»Meine Quellen sind unvollständig. Nur eine erwähnt den ›Unterschlupf des Geistfressers‹, ohne sich allerdings näher darüber auszulassen.«
»Ich schätze, wenn er Arthur imitiert, dann muss er irgendwann das Haus verlassen«, folgerte Blatt. »Ich kann mich zur Hintertür hineinschleichen. Gibt es eine Hintertür?«
»Am besten wäre der Weg durch die Garage«, überlegte Arthur. »Es gibt einen Fernbedienungsschalter für das Tor, unter einem blauen Stein in der Einfahrt. Ich nehme an, der Geistfresser wird sich, wenn er meinen Platz einnimmt, wahrscheinlich in meinem Zimmer im obersten Stockwerk aufhalten. Aber wir sollten mehr Informationen sammeln, bevor wir uns darauf verlassen.«
Er nahm den Dritten Schlüssel in die eine Hand und legte die andere auf den Atlas, dessen grüner Ledereinband unter seiner Berührung erbebte.
»Warte einen Moment!«, forderte Blatt ihn auf. »Du brauchst nicht –«
»Ich kann dich nicht gegen einen Geistfresser antreten lassen, ohne dass du vorbereitet bist«, schnitt ihr Arthur das Wort ab. »Außerdem ist das ein guter Test, um festzustellen, wie weit die Kontaminierung fortschreitet.«
»Arthur –«, setzte Blatt erneut an, doch der konzentrierte sich schon auf die Fragen, die er dem Atlas stellen wollte.
Was ist ein Geistfresser? Wie kann mein Doppelgänger besiegt werden? Wo liegt sein Unterschlupf?
Kaum hatte er dies gedacht, als der Atlas auch schon explosionsartig aufklappte und sich auszudehnen begann, während die Seiten wie in einer Windbö flatterten. Als er zu voller Größe angewachsen war, legten sich die Blätter, und eine unsichtbare Hand begann zu schreiben. Die ersten paar Schriftzeichen erschienen in einem seltsamen Alphabet aus Strichen und Punkten, doch unter Arthurs aufmerksamen Blicken fingen sie an zu flimmern und verwandelten sich in die feinen lateinischen Buchstaben eines geübten Kalligraphen.
Sämtliche Augen waren auf Arthur gerichtet, während er auf den Atlas starrte. Sogar Susi sah Dame Primus gespannt über die Schulter.
Im Interesse der Übrigen las Arthur den Eintrag laut vor; nicht ohne Schwierigkeiten, denn er war die altertümliche Schrift nicht gewöhnt, und viele Wörter waren ihm nicht geläufig.
Der Begriff ›Geistfresser‹ wird häufig benutzt, um einen Typus von Nichtlingen zu bezeichnen, die der Bürgerklasse verwandt sind, bekannt auch als Nahe Schöpfungen, denn sie setzen eine Art der technischen Zauberei ein, die von der Architektin angewandt wurde, um Leben aus dem Nichts zu erschaffen. Ihre Kunstfertigkeit erreichen sie dabei jedoch nicht.
Ein Geistfresser greift immer auf eine Schöpfung der Architektin zurück, entweder direkt, indem er einen Bürger kopiert, oder indirekt durch Kopie eines Sterblichen, des gegenwärtigen Endprodukts der uralten Experimente der Architektin mit der Evolution des Lebens.
Die Bestimmung eines Geistfressers ist es in jedem Fall, ein Original zu ersetzen, gewöhnlich zum Zweck der Spionage, des Verrats oder anderer Übeltaten. Er wird also für die meisten Betrachter das äußere Erscheinungsbild des von ihm ausgewählten Geschöpfes haben. Sein wahres Gesicht und seine wirkliche Gestalt können gesehen werden, indem man ihn an einem sonnigen Tag durch einen Schleier von Regentropfen betrachtet; auch die Anwendung gewisser Zauber erfüllt diesen
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