Die Schluesseltraegerin - Roman
laut Aussage einiger Mitbrüder zu einem sündhaften Hurenbock verkommen.
Ja, Wala war mehr enttäuscht über das Versagen des Agius als über die Unfähigkeit des Wulfram. Sicherlich hatte der Prior Recht, wenn er behauptete, dass es dem Kloster prächtig ging, dass es gedieh und nahezu täglich wuchs. Die Edlen und Freien
verschenkten ihre Ländereien massenhaft, um sich in die aussichtsreichen Dienste des so mächtigen Klosters zu begeben. Es gab keinerlei Irrlehren in diesem Hause, keinerlei Verwirrte, die der Prädestination oder anderen weltabgeschiedenen, exklusiven Ideen anhingen. Zwar waren die Mönche in großem Maße dem Wohlleben verfallen, sahen feist und faul aus, aber besser, sie schlugen sich die Mägen voll, als dass sie die Leute mit Gedanken verunsicherten, die allem Ansinnen der Reichskirche zuwiderliefen.
Dennoch hätte Wala erwartet, dass wenigstens einige wenige sich tatsächlich um das Seelenheil der Menschen bemühten. Ihnen allein am Sterbebett Gesellschaft zu leisten und ihnen zu verdeutlichen, wie wichtig es für ihr persönliches Leben nach dem Tode wäre, wenn sie noch in ihrem letzten Stündlein eine gottgefällige Tat vollbrachten, reichte nicht aus. Nur Geschenke anzunehmen, Ländereien anzuhäufen und Lehen zu vergeben, war nicht die alleinige Sicherheit für dieses prosperierende Kloster und stellte nicht seine einzige Pflicht dar. Nein, man benötigte das Vertrauen der Menschen, musste sie überzeugen, ja sogar begeistern. Das Land der Sachsen war riesengroß und noch immer nicht ganz erschlossen, es war nicht nur Heimat fruchtbarer Felder und Wiesen, nein, es war auch Heimat unzähliger unwissender Seelen. Wala selbst entstammte einem sächsischen Adelsgeschlecht, er kannte seine Stammesbrüder gut. Sie waren stur und träge, liebten die Wärme ihres Eigenheims, ihren bescheidenen Besitz und ihre Freiheit. Mit Gewalt war ihnen nicht beizukommen, das hatte Karl versucht. Er hatte sie im Kampfe besiegt, hatte ihre Heiligtümer zerstört, ihnen selbst für geringe Vergehen mit der Todesstrafe gedroht, Geiseln genommen, ganze Siedlungen deportiert – und tatsächlich war es ihm zunächst gelungen, sie im Zaume zu halten, aber noch immer brodelte es in ihnen. Nein, Gewalt
war keine Lösung, und ebenso wenig arrogantes Gebaren und das Einigeln hinter dicken Klostermauern. Man musste auf sie zugehen und sie mit Geduld zu überzeugen suchen. Denn so stur sie waren, so treu waren sie auch, wenn man sie erst einmal auf seiner Seite hatte.
Denn die Konkurrenz war groß.
Überall liefen sie herum. Auf dem Weg von Paderborn hatte er sie gesehen, die zerlumpten Gestalten. Wandermönche von den Inseln, auf die es vor hunderten von Jahren die Angeln und die Sachsen verschlagen hatte. Geistliche ohne Auftrag, ohne Führung, die sich allein auf Gott beriefen und nur Unheil mit ihren Irrlehren stifteten. Dann gab es die Eigenkirchen, errichtet von reichen, edlen Sachsen, teils prächtige Gotteshäuser, in welche die Gründer ihre eigenen Geistlichen einsetzten, somit auch die Seelen der Menschen kontrollierten und sich mehr und mehr unabhängig machten von Kaiser und Reichskirche. Nicht zu vergessen die Bistümer, die mit den Klöstern konkurrierten und ihrerseits Missionare losschickten, und nicht zu vergessen die anderen, verbrüderten Klöster, vor allem das in Fulda. Mächtige Häuser, die ebenfalls gewillt waren, ihren Einfluss zu erweitern.
Ja, jede einzelne Seele war wichtig. Jede einzelne – und das nicht nur jetzt, sondern über Generationen hinaus, bis weit in zukünftige Jahre, Jahrzehnte, Jahrhunderte hinein. Man musste die Menschen gewinnen, und nicht nur Teile ihres Landes. Deshalb war es außerordentlich gut, Leute wie Agius in seinen Reihen zu haben. Leute, die verstanden, worauf es ankam. Die einen Sinn dafür hatten, dass man das eine große Ziel auf Erden nur dann erreichte, wenn man seinen Kopf nicht nur zur Kontemplation gebrauchte, sondern erkannte, dass das, was in der Welt geschah, nicht allein von der Gnade des Herrn abhängig war.
Und darum war Wala wütend. Es war weniger die Unkeuschheit des Agius, die ihn rasend machte, sondern vielmehr die Arroganz der Mönche, mit der sie ein Experiment wie das des Kirchbaus unter Heidenbauern kläglich hatten scheitern lassen. Dieses Scheitern, davon war Wala überzeugt, hatte nicht daran gelegen, dass die Menschen so unnahbar, so vollkommen verdorben und dumm waren. Nein, es war allein Mangel an Organisation, an Willenskraft
Weitere Kostenlose Bücher