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Die Schluesseltraegerin - Roman

Die Schluesseltraegerin - Roman

Titel: Die Schluesseltraegerin - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simone Neumann
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dem Bruder Ingas. Zufällig hatten sich ihre Wege gekreuzt, und auch wenn Gernot ein friedliebender junger Mann gewesen war, war er dem anderen wegen der Attacke auf seinen Bruder Ansgar nicht wohlgesonnen. Es war zum Streit gekommen, in dem Bero Gernot tötete.
    Aber das ergab keinen Sinn.
    So, wie Melchior und Agius den Toten aufgefunden hatten, sah alles nach einer geplanten Tat aus. Gernot war aus dem
Hinterhalt überwältigt, bewusstlos in den Wald geschleift und dann an einen Baum gebunden worden.
    Eine Erle, Symbol für einen gewaltsamen Tod. Dort hatte man den Ohnmächtigen heimtückisch erdrosselt und eine Racherune in den Stamm geritzt.
    Warum hatte Bero so hinterhältig getötet? Das war für einen Mann von Ehre eine mehr als feige Tat. Doch nichts war unmöglich.
    Wieso sollten diese wilden, ungebändigten Menschen nicht ebenso heimtückisch sein wie all die edlen, gebildeten Christen seiner Heimat?
    Agius musste sich die Schandtaten nicht erst in Erinnerung rufen, welche in seiner eigenen Familie oder in seinem späteren, monastischen Wirkungsfeld vorgefallen waren. Grausamkeit standen auch bei den schon lange gottesfürchtigen Franken auf der Tagesordnung. Seinem Großvater hatte man zeit seines Lebens nachgesagt, er habe seinem älteren Bruder auf der Jagd nicht versehentlich einen Pfeil ins Auge geschossen, sodass das Erbe an den jüngeren ging. Und der plötzliche Gifttod gleich zweier Tanten des Agius hatte dazu geführt, dass deren Witwer wenige Wochen später die hohe Mitgift von zwei schönen, jungen Römerinnen einstreichen konnten. Selbst die Klostermauern schützten vor gewaltsamen Untaten nicht. Agius dachte an einen besonders grausamen Fall, als der Abt eines südfränkischen Klosters vier Mönche wegen Untreue entmannen ließ. Einer war an den Folgen dieser blutigen und wenig christlichen Strafe verstorben.
    In einer Welt, in der der Tod allgegenwärtig war, zählte ein Menschenleben nichts. Und es stand auch einem Gottesmann nicht zu, dem unnötigen Sterben Einhalt zu gebieten. Er konnte für das Seelenheil der Verstorbenen beten und den Lebenden die Lehre Christi nahebringen, sodass zu hoffen war, dass sie
eines Tages zur Vernunft kamen. Doch wenn dies nicht einmal den Edelsten, den Königen, ja den Kaisern und selbst Vertretern der hohen Geistlichkeit gelang, dann durfte man sich über das barbarische Treiben dieser Sachsen nicht wundern. Dennoch war es Agius ein Anliegen, gerade in diesem Falle Klarheit zu gewinnen.
    Warum?
    Das konnte er sich selbst kaum erklären.
    War es der Gerechtigkeit wegen?
    Gerechtigkeit war ein zu großes Wort, als dass ein einziger, bedeutungsloser Mönch wie er sich hätte anmaßen können, ihr den Weg zu bahnen.
    Nein, der Wunsch nach Gerechtigkeit war es nicht.
    Neugierde?
    Darüber wagte Agius nicht nachzudenken, denn ein solch unnützer, zeitraubender Wesenszug wäre nicht nur eine große Sünde, sondern auch ein unangenehmes Eingeständnis gegenüber seinem eigenen Stolz gewesen.
    War es der Mangel an Demut, den man ihm nachsagte?
    Sein Hang, stets nach eigenen Wegen zu suchen?
    Trotz gegen die Ziele des Taddäus?
    Doch das Ziel des Taddäus war auch das Ziel des Agius, und dieses Ziel hieß schlicht und einfach: Einheit.
    Ja, die vielbeschworene Einheit, die Einheit in allem, im Glauben, im Leben. Ein Gott, eine Kirche, ein Kaiser, ein Reich und ein Volk. Keine Unterschiede, keine komplizierten Ausnahmen. Und erst recht keine eigenwilligen, freien Heiden, die auf ihren riesigen Ländereien festsaßen wie bockige Esel.
    Nein, der Trotz gegen Taddäus war es keineswegs.
    Der Grund, so fürchtete Agius, lag in ihm selbst verborgen. Allein in ihm und in dem, was die Welt, wenn er sich in ihr bewegte, aus ihm machte. Sie faszinierte ihn, diese Welt, sie nahm
ihn ein, sie umschloss ihn. Sie und alles, was sie verkörperte, ihre Geheimnisse, ihre Grausamkeiten, ihre Menschen.
    Vielleicht war es doch Neugierde, die ihn trieb – Neugierde und das Verlangen herauszufinden, was sie mit alldem zu tun hatte.
    Erneut würde er sie befragen müssen, das stand fest. Denn er wollte den jungen Bero finden und mit ihm sprechen. Dessen Schwester konnte ihm gewiss Auskunft über Beros Verbleib geben. Ober wollte oder nicht, so redete er sich ein, er musste sie wieder treffen. Noch heute.
     
    Die Axt flog direkt am Kopfe des Agius vorbei und bohrte sich tief in das tote Holz eines abgestorbenen Eichenbaumes. Erschrocken fasste der Mönch sich an die unversehrte Stirn, und

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