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Die Schluesseltraegerin - Roman

Die Schluesseltraegerin - Roman

Titel: Die Schluesseltraegerin - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simone Neumann
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ein Anliegen, dass diese traurige Vergangenheit nicht wieder zum Leben erweckt wird. Ich bitte dich, Ansgar, dem jungen Bero zu verzeihen. Lass nicht eines zum anderen kommen.«
    »Ich glaube, das geht dich nichts an, Mönch. Und nun muss ich an die Arbeit. Eine Familie lässt sich nicht von Geschwätz und Beterei ernähren.«
    Inga hörte, wie sich die schweren Schritte des Ansgar entfernten, und es dauerte nur einen Augenblick, da schaute bereits Agius um die Ecke. Inga hielt mit ihrer Arbeit inne. Groß und schlank stand er vor ihr, die Abendsonne schien ihm ins außergewöhnlich braune Gesicht.
    »Ich bin tatsächlich nicht seinetwegen gekommen«, sagte er leise.
    Inga schaute beschämt auf das tote Huhn in ihrem Schoß.
    »Ich muss wissen, wo dein Bruder ist«, fuhr er fort.
    »Mein Bruder? Wieso? Ansgar wird ihm nichts tun. Ich weiß es.«
    »Ansgar wird nichts tun. Aber dein Bruder, über ihn bin ich noch im Zweifel. Ich muss mit ihm sprechen.«
    »Er war es nicht.« Inga wurde ein wenig zornig. Was nahm sich dieser Mönch eigentlich heraus? Wieso schnüffelte er in den Angelegenheiten freier Familien herum?
    »Wo ist er?«, forschte er unermüdlich weiter.
    »Bei unserem Oheim, nahe der Böker-Siedlung.«
    »Wie finde ich dorthin?«
    »Der Weg führt am östlichen Rande des Kapenberges entlang.«

    »Dort, wo auch Gernot hatte entlangreiten müssen?«, fragte Agius.
    Inga warf ihm einen bösen Blick zu. Sie wusste, was er sagen wollte.
    »Mein Bruder ist bereits zwei Tage zuvor geritten.«
    »Vielleicht ist er zurückgekehrt.«
    »Sollte sich ein Mönch nicht besser um seine Kirche kümmern?«
    Agius schwieg und schaute sie dabei lange mit leicht zugekniffenen Augen an. Dann drehte er sich um und ging. Nach wenigen Schritten kehrte er jedoch zurück, beugte sich zu ihr und sagte leise, ihr direkt in die Augen schauend: »In der Siedlung werden ungute Dinge über dich erzählt. Hüte dich, Inga, Witwe des Rothger.«
    Dann verschwand er.
     
    Zwillingsgeburten waren immer ein mit Schrecken erwartetes Ereignis. Das hatte auch Irmgard, zweite Frau des Hilger, älteste Schwester des Liudolf, Mutter des Rothger, des Ansgar und des Gernot, leidvoll erfahren müssen. Bei der Niederkunft mit ihren beiden jüngsten Töchtern wurde sie so sehr zerrissen, dass sie monatelang darniederlag. Einen ganzen Winter und auch einen ganzen Frühling litt sie, konnte sich nicht erheben, nicht gehen, nicht einmal sitzen. Erst im Sommer, als sich die Wunde von innen heraus erneut entzündete, wurde sie nach schrecklichen Fieberkrämpfen von ihrem Leid erlöst.
    Auch bei Huftieren erfüllte die nahende Geburt von gleich zwei Kälbern, Fohlen, Zicklein oder Lämmern den Bauern nicht mit Freude. Zu dünn und zu klein waren sie. Meist starb mindestens eines, und oft auch das Muttervieh. Kein Segen war eine doppelte Geburt, sondern vielmehr ein Fluch.
    Aus diesem Grund bereitete Inga in dieser Nacht ihr Lager
im Schafstall, denn eine ihrer liebsten und besten Ziegen zeigte bereits am Abend an, dass ihre beiden Geißlein bald auf die Welt kommen würden.
    Die Nacht war soeben hereingebrochen und Inga noch nicht lange in einen tiefen, ruhigen Schlaf gefallen, da nahm es seinen Lauf: Es dauerte nicht lang, und zwei entzückende Böckchen standen auf wackeligen Beinen im Stroh, auch die Mutter war wohlauf. Alles war erstaunlich gutgegangen, sodass Inga erleichtert ihre Decken zusammenraffte, um sich zurück ins Haus zu begeben.
    Sie war soeben aus der Stalltür herausgetreten und ging den schmalen, von Haselnusssträuchern gesäumten Weg entlang, der zum Hauptgebäude führte, da erblickte sie sie. Die Fylgje, die verschleierte, schöne Frau in Geistergestalt, welche ihr bereits in der Nacht von Rothgers Tod erschienen war. Sie verließ soeben den Hof, wandelte durch das Tor zum Hohlweg, in dessen von Büschen gesäumten Tiefen sie verschwand, bis nur noch ihr weiß verschleierter, im Mondlicht dahinschwebender Kopf zu sehen war.
    Inga folgte ihr. Sie fürchtete sich nicht, ging wie im Traum. Erst als aus dem Wald der Schrei eines Uhus erklang und im nächsten Moment das riesige Tier von einem Baum unmittelbar vor Ingas Füße schoss, um sich dort eine Maus zu greifen, erschrak sie und lief eiligen Schrittes zurück zum Haus, während die Frauengestalt im Dunkel verschwand.
    Wieder war sie dagewesen.
    Inga starrte an die Decke, als sie fröstelnd auf ihrer Bettstatt lag. Wen würde es nun treffen?
    Aus den Erzählungen ihrer Großmutter Tilda

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