Die Schmetterlingsinsel
Wäre das für dich in Ordnung, meine Liebe?«
Über die Aussicht, endlich wieder Besuch empfangen zu dürfen, strahlten Claudias Augen.
»Aber natürlich ist das in Ordnung! Wir sollten bei der Gelegenheit gleich auch seine Familie einladen. Er ist doch verheiratet, oder?«
»Ja, das ist er, und er hat einen Sohn. Er ist ein wenig älter als Grace und organisiert die Verwaltung seiner Plantage.«
»Dann werde ich heute gleich eine Einladung aussprechen. Wenn du nichts dagegen hast.«
»Es kann nicht schaden, seine Nachbarn ein wenig kennenzulernen, oder?« Damit wandte er sich wieder seinem Frühstück zu.
Grace saß zunächst da wie angewurzelt, dann besann sie sich wieder darauf, dass eine Lady ihre Gefühle im Zaum halten und verbergen musste.
Wenn ich jetzt etwas dagegen sage, mache ich alles noch schlimmer. Die Teestunde ist sicher die Bestrafung für mein Verhalten.
Ihre Eltern schienen mit ihrem Schweigen zufrieden zu sein.
Nur Victoria erkannte, dass sie noch immer zornig war, und fragte sie nach dem Frühstück, als sie gerade eine Runde durch den Garten machten: »Ist es denn so schlimm, dass er herkommt? Er hat dir doch wirklich nichts getan, sondern wollte nur nett sein. Der erste Eindruck täuscht manchmal. Außerdem musst du die Teestunde doch nicht führen, sondern Mama. Er wird sich gar nicht mehr an dich erinnern, und irgendwann ist auch die Teestunde vorbei.«
»Du hast recht.« Grace senkte verlegen den Kopf. »Ich weiß auch nicht, was in mich gefahren ist. Manchmal habe ich … ich meine, manchmal meine ich zu spüren, wenn jemand unaufrichtig ist. Seine Freundlichkeit war beinahe ein bisschen zu viel für eine erste Begegnung, findest du nicht? Und dann dieser Handkuss. Im Moment zuvor hatte er noch den Anschein gemacht, als wollte er uns eins mit der Reitgerte überziehen.«
»Da hast du recht. Aber Papa würde nicht anders reagieren, wenn ihm jemand vors Pferd läuft. Du weißt, was für schreckliche Unfälle es geben kann. Denk an Onkel Richard.«
»Der ist vom Adams Peak gestürzt, nicht vom Pferd.«
»Sturz ist Sturz!«, beharrte Victoria. Dann lenkte etwas ihren Blick ab.
»Ah, schau mal, Mr Vikrama! Ob ich ihn mal fragen soll, ob er mir einen Papagei fängt?«
»Du solltest dich lieber auf das Fangen von Schmetterlingen verlegen.«
»Aber ein Papagei würde prima in Mamas Salon passen!«
»Dann solltest du aber einen roten fangen, Miss Giles hat doch gestern berichtet, dass sie rote Seide aus Indien bestellt haben.«
Als hätte Vikrama bemerkt, dass sie zu ihm rüberschauten, wandte er sich um, hob dann kurz die Hand zum Gruß und lächelte.
»Na, was sagt deine Intuition zu ihm?«
Grace wandte schnell den Blick ab. »Wie meinst du das?«
»Was hältst du von Mr Vikrama?«
»Ich habe noch nicht einmal ein Wort mit ihm gewechselt, also kann ich es nicht sagen.«
»Aber wir haben ihn doch mit Vater beobachtet. Mir erschien er ganz nett.«
»Ich glaube nicht, dass dein Urteilsvermögen bereits groß genug ist.« Grace wusste genau, dass ein kleiner Streit sie von dem Thema abbringen würde.
»Mein Urteilsvermögen?«, sprang Victoria sogleich an. »Das musst du gerade sagen! Du bist genauso wenig herumgekommen wie ich!«
»Aber fünf Jahre länger auf der Welt als du.«
»Vier!«, korrigierte die Jüngere. »Und Mr Norris sagt immer, dass Menschenkenntnis und Intuition nicht vom Alter abhängen. Auch sehr junge Menschen können wissen, wie der Hase läuft.«
»Das hat er bestimmt nicht gesagt.«
»Nein, aber er hat es gemeint. Und ich fühle mich schon überaus reif.« Victoria reckte das Kinn in die Höhe, doch Grace hatte auf einmal keine Lust mehr zu streiten. Ihr Blick war bei Vikrama hängen geblieben. Zwei Frauen unterhielten sich mit ihm und gestikulierten dabei wild. Worum ging es?
Es war unmöglich, das von weitem zu erkennen, und näher herangehen wollte sie nicht. Aber sie fragte sich plötzlich, ob Vikrama eine Frau oder zumindest eine Braut hatte. Im richtigen Alter dafür war er, und er war auch gutaussehend genug, dass sie ihm eine Ehefrau zutraute. Wahrscheinlich waren die Teepflückerinnen ganz verrückt nach ihm, denn durch sein Amt auf der Plantage war er auch eine gute Partie.
»Grace, träumst du?«, fragte Victoria, während sie ihr kurz in den Arm kniff.
Grace sah sie erschrocken an. Erst einen Moment später spürte sie den Schmerz.
»Was soll denn das?«
Victoria lächelte schelmisch. »Ich habe dich gefragt, ob du glaubst, dass er
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