Die Schmetterlingsinsel
jemals hier ankommen wird.«
»Wen meinst du?«
»Na, Mr Norris. Wenn nicht, müssen wir die arme Miss Giles doch noch mit einem Einheimischen verkuppeln. Vielleicht sogar mit Mr Vikrama.«
Grace versuchte, den eifersüchtigen Stich, der sie traf, zu verbergen.
»Ich glaube nicht, dass sie ihn haben wollen würde. Immerhin ist er kein Engländer.«
Wieder wanderte ihr Blick zu Vikrama, der sich jetzt lächelnd von den Frauen verabschiedete und dem Verwaltungsgebäude zustrebte. »Nein, er ist wirklich kein Mann für sie.«
Am Nachmittag saß Grace mit ihrer Mutter und Victoria im Salon, wo sie gemeinsam auf die Ankunft ihres Vaters und Mr Stocktons warteten. In ihrer Heimat hatte Grace es geliebt, wenn jemand auf Tremayne House zu Besuch gekommen war. Hin und wieder waren Schriftsteller oder Maler darunter gewesen, meist Empfehlungen von Bekannten. Jetzt konnte sie nur daran denken, dass der Kragen ihres rosafarbenen Nachmittagskleides kratzte und dass die Zeit so schleppend verging, als hätte jemand einen Fluch auf die Wartenden gelegt.
Welche Geschichten mochte Stockton erzählen? Diese Frage versetzte Grace in keine sonderliche Aufregung. Er würde gewiss langweilig über Tee plaudern und dann neugierige Fragen stellen. Zum Beispiel, ob sie ihr Debüt schon hinter sich hatte. Und dann würde in ihr der Wunsch aufkommen, ihn mit seinem Ascot tie zu würgen.
Als Hufgetrappel ertönte, atmeten alle drei Tremayne-Frauen gleichzeitig auf. Der Besuch war da, es konnte losgehen. Verstohlen blickte Grace zur Uhr. Eine Stunde. Vielleicht zwei. Dann würde er wieder gehen und sie hatte Zeit, an ihre Freundin Eliza Thornton zu schreiben, die jetzt wahrscheinlich beim Tanzunterricht schwitzte und es gar nicht mehr abwarten konnte, sich in die Ballsaison zu stürzen.
Während die Stimme des Butlers durch das Foyer tönte, blickte Grace zu ihrer Schwester. Zuvor hatten sie ausgemacht, dass sie beide Stockton genau im Auge behalten und ihre Eindrücke miteinander vergleichen würden.
Stockton kam allein. Wo war ihr Vater? Verwundert blickten sich die Schwestern an.
»Ah, Mr Stockton!«, rief Claudia aus und erhob sich, um ihrem Gast entgegenzugehen. »Es freut mich sehr, Sie kennenzulernen. Mein Mann hat mir schon viel von Ihnen erzählt.«
»Hoffentlich nur Gutes«, gab er galant zurück, ohne Grace und Victoria auch nur im Geringsten seine Aufmerksamkeit zu schenken. »Es wäre eine Schande, wenn ich mich Ihres Salons nicht für würdig erweisen würde.«
»Da haben Sie wohl nichts zu befürchten, wenn mein erster Eindruck sich nicht irrt«, entgegnete Claudia kokettierend, dann stellte sie ihm ihre Töchter vor.
»Das sind Grace und Victoria.«
»Wir hatten bereits das Vergnügen«, entgegnete Stockton mit einer leichten Verbeugung. »Ich hoffe, Sie haben sich inzwischen von dem Schrecken erholt.«
»Sicher doch, Mr Stockton!«, entgegnete Victoria und blickte zu ihrer Schwester. Grace bemühte sich um ein Lächeln. Vielleicht schätze ich ihn wirklich falsch ein, dachte sie. Ich sollte Mutter keinen Ärger machen.
»Wir wissen ja, dass es keine böse Absicht Ihrerseits war«, entgegnete sie und reichte ihm die Hand. Stockton lächelte, als er sie ergriff.
»Das freut mich. Ich wäre untröstlich, wenn ich Sie in irgendeiner Weise verärgert hätte.«
»Das haben Sie ganz sicher nicht«, schaltete sich Claudia ein. »Meine Tochter ist nur ein wenig impulsiv und beschützt natürlich ihre kleine Schwester.«
»Alles gute Eigenschaften für eine spätere Ehefrau«, bestätigte Stockton, noch immer lächelnd, und deutete eine spöttische Verbeugung an.
Glücklicherweise waren die Höflichkeiten damit beendet, und Claudia führte ihren Gast zur Teetafel.
»Entschuldigen Sie bitte, wenn das Gebäck ein wenig anders ist, als Sie es gewohnt sind. Mein Schwager hatte es versäumt, der Köchin beizubringen, vernünftige Scones zu backen.«
»Ich glaube nicht, dass das Ihrem Schwager anzulasten ist«, gab Stockton zurück. »Meine Köchin ist manchmal auch ein wenig eigenwillig, aber sie ist sehr fleißig, und darauf kommt es meiner Meinung nach an.«
Als sie sich setzten, fühlte Grace eine seltsame Anspannung. Stockton hatte sich bisher nichts zuschulden kommen lassen, was ihren Unmut hätte erregen können. Aber etwas lag in der Luft, wie ein Gewitter, das sich langsam zusammenballte, bis es sich mit aller Macht entlud. War es die Bemerkung mit der Ehefrau gewesen? Eigentlich hatte sie nichts
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