Die Schmetterlingsinsel
gegen das Heiraten, und der Wahrsager hatte ihr ja auch eine Ehe vorhergesagt …
»Es tut mir sehr leid, was mit Ihrem Schwager und Bruder passiert ist«, begann Stockton nun. »Es war für uns alle ein Schock, und ich persönlich kann Ihnen versichern, dass ich nichts auf die bösartigen Gerüchte gebe, die hin und wieder aufflammen.«
Bösartige Gerüchte? Grace blickte zunächst zu Victoria, dann zu ihrer Mutter. Doch die war schon immer ein Muster an Selbstbeherrschung gewesen. Wenn ihr diese Bemerkung irgendetwas ausmachte, ließ sie sich nichts anmerken. Und ihre Erziehung verbot ihr auch, nach den Gerüchten zu fragen.
Auf ihr Läuten hin erschien eines der tamilischen Dienstmädchen, die Claudia für das Servieren der Speisen bestimmt hatte. Sie hatten zwar nicht die Gewandtheit englischer Dienstmädchen, doch unter dem strengen Blick ihrer Herrin gab sich Rani die größte Mühe.
Als Grace verstohlen zu Mr Stockton schielte, bemerkte sie, wie seine Blicke der in einen leuchtendblauen Sari gekleideten Frau folgten.
»Sie erlauben Ihren Dienstmädchen die traditionelle Kleidung? Sehr fortschrittlich von Ihnen.«
Ein leicht rötlicher Schimmer erschien auf Claudias blasser Haut.
»Leider haben wir festgestellt, dass keine einzige Dienstmädchenuniform im Haus vorhanden ist. Offenbar hat mein Schwager das Personal bereits in dieser Kleidung arbeiten lassen. Aber sie dürften mit dem nächsten Schiff, das in Colombo eintrifft, einlaufen.«
»Das sollte keine Kritik sein«, gab Stockton zurück, während er den Tee umrührte und dann den Duft tief einsog. »Ich finde die Kleidung dieser Frauen sehr reizvoll. Damit sehen sie fast so farbenprächtig aus wie die Papageien in den Bäumen. Bei all dem Grün, das uns umgibt, sind ein paar Farbtupfer doch sehr willkommen, finden Sie nicht?«
Während er trank, blickte Grace zu ihrer Mutter. Ob sie ihn jetzt immer noch nett findet? Die Kleidung der Bediensteten zu bemerken, galt in England immer als Kritik an der Gastgeberin.
»Ihr Tee ist wirklich hervorragend«, bemerkte Stockton, nachdem er probiert hatte. »Ja, ich behaupte neidvoll, dass dieser Jahrgang sogar meine eigene Ernte übertrumpft. First flush, nicht wahr?«
Claudia sah ratlos drein. »Verzeihen Sie, wenn ich Ihnen darauf eine Antwort schuldig bleiben muss, ich bin mit dem Teeanbau noch nicht vertraut.«
»Oh, verzeihen Sie, wenn ich Sie in Verlegenheit gebracht habe. Mir, dem der Teeanbau schon seit Jugendjahren bekannt ist, rutscht immer wieder Fachvokabular heraus, ohne zu bedenken, dass andere mich vielleicht nicht verstehen.«
»Was ist denn der First flush, Mr Stockton?«, fragte Victoria neugierig.
»Das ist eine der vier Erntezeiten.« Stocktons Blick blieb an Grace haften, als hätte er diese Frage von ihr erwartet. Nervös senkte sie die Lider, bemerkte aber noch, dass der Mann lächelte. »Man wendet sie hauptsächlich bei Darjeeling an, aber auch bei Assam ist es üblich, die Erntezeiten zu unterscheiden. Der hier angebaute Tee ist hauptsächlich Assam, wenngleich wir ihn jetzt Ceylon nennen.«
Die Erinnerung an Vikramas Erklärungen gegenüber ihrem Vater kamen ihr wieder in den Sinn und brachten sie zum Lächeln, was Stockton nicht entging.
»Ihre Tochter ist wirklich sehr reizend, Mrs Tremayne. Hat sie ihr Debüt schon hinter sich?«
Dass die Frage so schnell kommen würde, hätte Grace nicht erwartet. Glücklicherweise hatte er nicht sie, sondern ihre Mutter gefragt.
Claudia wirkte verlegen. »Nein, leider hatten wir keine Zeit mehr dazu. Der Tod meines Schwagers hat uns ganz furchtbar überrascht. Aber wir planen, es nächstes Jahr nachzuholen, wenn die Lage hier einigermaßen stabil ist.«
»Nun, wenn das so ist, sage ich Ihnen schon heute voraus, dass die junge Dame sich besser nach einer guten Schneiderin umsehen soll. Die Gesellschaft von Nuwara Eliya ist zwar klein, aber sehr anspruchsvoll. Mit einem schönen Kleid wäre ihre Tochter gewiss in der Lage, sämtlichen jungen Männern hier den Kopf zu verdrehen.«
»Das ist zu freundlich von Ihnen, Mr Stockton«, entgegnete Claudia geschmeichelt. »Vielleicht kann Ihre Gattin mir bezüglich der Schneiderin einen Rat geben.«
»Das wird sie mit Vergnügen tun.«
Endlich spürte Grace, dass er seinen Blick abwandte.
Doch das bedeutete nicht, dass Stockton sie nicht weiter zum Thema der Unterhaltung machen würde. »Was halten Sie davon, wenn Ihre Töchter meine Kinder kennenlernten?«, begann er, nachdem er ein
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