Die Schmetterlingsinsel
der trotz allem ruhig und freundlich blieb, was Grace überaus bewunderte. Ihr ging die Gouvernante langsam auf die Nerven.
»Ich werde Mr Tremayne bitten, einen Tisch und Stühle hierher schaffen zu lassen. Miss Graces Entschluss, Tamil zu lernen, kam recht plötzlich, und ich weiß nicht, ob sie wirklich Gefallen daran finden wird.«
Als er sie prüfend ansah, nickte Grace ihm zu. Oh, sie würde Gefallen daran finden! Allein schon deswegen, weil er ihr Lehrer war!
Als sie alle einen Platz gefunden hatten und Miss Giles sich in den Schatten zurückgezogen hatte, begann Vikrama mit einfachen Phrasen und Worten. Was für sie unaussprechbar erschien, sprach er mit beneidenswerter Leichtigkeit aus. Geduldig hörte er sich ihre falschen Versuche an und überging auch die gelangweilten Einwände von Miss Giles mit einem freundlichen Lächeln.
Am Ende des Unterrichts fühlte sich Grace wie gerädert, aber eine zuvor nur selten gekannte Zufriedenheit breitete sich in ihr aus. Endlich hatte sie das Gefühl, etwas Sinnvolles zu tun!
Die Hoffnung ihrer Eltern, dass es sich nur um eine kurzzeitige Begeisterung handeln würde, enttäuschte sie beim Abendessen, als sie überschwänglich von den Worten und ihren Bedeutungen berichtete.
»Es ist erstaunlich, wie reich diese Sprache ist! Und erst die Zeichen! Als handle es sich um eine Geheimschrift!«
Eigentlich war es nicht ihre Absicht, Misstrauen bei ihrem Vater gegenüber seinen Arbeiterinnen anzufachen, aber von der Bemerkung mit der Geheimschrift versprach sie sich, dass er ihr weiterhin die Erlaubnis erteilte. Sollte er etwas wissen wollen, konnte sie ihm nur das mitteilen, was sie wusste: dass die Menschen hier weit davon entfernt waren, gegen ihn zu revoltieren.
»Ich würde auch viel lieber Tamil lernen«, quengelte Victoria, als Grace am Abend die Schriftzeiten in ein kleines Heft kopierte, das sie sich von Mr Norris geholt hatte.
»Es ist komplizierter, als du denkst«, gab Grace zurück, ohne von ihrer Arbeit aufzusehen. »Lern du erst mal Französisch, dann kannst du immer noch die Sprache der Einheimischen lernen.«
»Aber Französisch nützt mir hier doch nichts!«
»Natürlich, wenn du von den Damen der Gesellschaft eingeladen wirst. Du hast doch gehört, wie entzückt sie alle waren!«
»Ich habe aber kein Interesse daran, ihren langweiligen Töchtern die Zeit zu vertreiben. Außerdem werden sie sich wohl kaum für Spaziergänge durch die Botanik begeistern lassen.«
Als Victoria verstummte, spürte Grace, dass noch etwas anderes hinter ihren Worten steckte.
Sie legte ihren Federhalter auf den Schreibtisch und ging zu ihrer Schwester. Diese wich ihrem Blick aus.
»Was ist denn, Victoria?«
»Magst du diesen Mr Vikrama?« Ihr Blick bohrte sich glühend in ihre Augen.
Grace schnappte ertappt nach Luft. »Natürlich mag ich ihn, er ist sehr freundlich.«
Victoria sah sie prüfend an. »Du erzählst mir doch, wenn du dich in einen Mann verliebst, oder?«
Jetzt war Grace sprachlos. Konnte sie ihr davon erzählen? Sie wusste, was ihr Vater und ihre Mutter darüber denken würden. Niemals würden sie die Verbindung mit einem Einheimischen tolerieren!
Doch was dachte sie denn da? Sie mochte Vikrama, nichts weiter. Und auch wenn sie es nicht zugeben würde, saß ihr die Prophezeiung von dem Palmblatt im Nacken. Sie würde ihrer Familie sicher kein Unglück bringen!
Grace zog Victoria in ihre Arme. »Natürlich erzähle ich es dir! Aber da ist nichts, was ich dir erzählen müsste. Vikrama ist sehr nett und ein geduldiger Lehrer, sonst nichts.«
Die beiden Schwestern verweilten einen Moment in ihrer Umarmung, dann holte Grace das Heft herbei, so dass Victoria sich davon überzeugen konnte, dass darin nichts anderes stand als die Schriftzeichen, die bei weitem noch nicht ausreichten, um ein geheimes Tagebuch zu führen.
Nach und nach lernte Grace die ersten Redewendungen und entdeckte ihre Freude daran, die fremden Worte zu gebrauchen, wenn sie Naala besuchte, um sich über ihren Zustand zu informierten. Mittlerweile waren ihre Wunden verheilt, doch Vikrama hatte recht, die Narben würden nie verschwinden. Genauso wenig, wie sie vergessen würde, wer daran schuld war. Die Dorfbewohner betrachteten sie zunächst ein wenig misstrauisch, doch die Heilerin sorgte dafür, dass man wusste, wer sie war.
Als die Ruhezeit gekommen war, verschwanden die bunten Saris von den Teefeldern, den Pflanzen wurde Gelegenheit gegeben, zu wachsen. Die Pflückerinnen
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