Die Schmetterlingsinsel
wurden jetzt hauptsächlich zum Verpacken des Tees eingesetzt. Das hieß nicht, dass sie von Mr Petersen nicht weiter angetrieben wurden. Sein Blick schwebte über ihren Köpfen wie ein Raubvogel. Zeit für »Schludrigkeit«, wie Petersen es nannte, hatte keine von ihnen. Sobald sich eine Frau dabei erwischen ließ, wie sie langsamer als die anderen packte, stellte er sich neben sie und strich ihr demonstrativ mit der zusammengerollten Peitsche über den Rücken. Es mochte vielleicht das Verbot geben, die Arbeiterinnen auszupeitschen, doch die Frauen konnten sich dessen nicht sicher sein. Wenn sie Gelegenheit dazu bekamen, beschwerten sie sich bei Vikrama, der allerdings auch nicht viel machen konnte. Solange Petersen nicht wieder eine der Frauen schlug, ließ Tremayne ihn gewähren.
Grace ging den Männern so gut es ging aus dem Weg. Wenn sie Petersen doch begegnete, versuchte sie, sich ihren Ärger über sein Grinsen nicht anmerken zu lassen.
Wenn es nach Grace gegangen wäre, hätte es ewig so weitergehen können, doch eines Tages wandte sich ihr Vater beim Abendessen an sie.
»Ich fürchte, du wirst für einige Zeit auf deinen Unterricht verzichten müssen. Ich benötige Mr Vikrama jetzt ganztags im Haus. Die Bücher müssen in Ordnung gebracht und neue Handelsverträge aufgesetzt werden.«
Grace sah ihn geschockt an, merkte aber gleich, dass sie hier nicht protestieren durfte. Die Arbeit war wichtiger als ihr Unterricht, die Plantage sicherte ihren Lebensunterhalt.
Da sie am Nachmittag weiter nichts zu tun hatte, unternahm Grace entweder Spaziergänge oder setzte sich mit einer Staffelei in den Garten, um die Blütenpracht des Frangipani und der Rhododendren einzufangen. Einmal kam ein Fotograf, um die Familienmitglieder vor ihrem Besitz zu fotografieren. Leider begann es zu regnen, so dass nur Grace ein Bild erhielt.
Eines Nachts, als Grace wieder auf das Auftauchen von Vikrama wartete, begann Victoria im Schlaf zu stöhnen. Zunächst hielt Grace es für das Geräusch eines wilden Tiers, eines Affen, den Victoria so gern mochte. Doch als es wiederkehrte und ihre kleine Schwester sich hin und her warf und mit den Zähnen klapperte, löste sich Grace vom Fenster und rannte zu ihr.
»Vicky, Schätzchen, was ist los?«
Victoria antwortete nicht. Als Grace ihre Stirn befühlte, schreckte sie zurück. Ihre Schwester glühte regelrecht!
Erschrocken wich sie vom Bett zurück und knetete kurz ihr Nachthemd. Dann wirbelte sie herum und lief aus dem Raum. Jemand musste einen Arzt rufen. In Nuwara Eliya gab es sicher einen.
Obwohl es sich nicht schickte, einfach so ins Schlafzimmer der Eltern zu stürmen, riss sie die Tür auf und rüttelte wenig später ihren Vater unsanft an der Schulter.
»Papa, hörst du mich?«
Henry Tremayne knurrte unwillig, dann fragte er: »Was suchst du hier, Grace?«
»Victoria ist krank. Sie hustet und hat Fieber. Wir brauchen einen Arzt.«
Noch vor ihrem Gatten fuhr Claudia auf. Sie hatte alles mit angehört.
»Henry, schick Wilkes doch zu Dr. Desmond, den du im Club kennengelernt hast.«
Wortlos erhob sich Tremayne und warf sich den Morgenmantel über.
Als er aus dem Zimmer gestürmt war, kehrte Grace wieder zu Victoria zurück. Auf ihre Mutter achtete sie nicht, aber kurz nach ihr musste sie sich ebenfalls aus dem Bett erhoben und sich den Morgenmantel übergeworfen haben. Noch bevor Grace in den Gang einbog, hörte sie Claudias befehlsgewohnte Stimme, die ein Dienstmädchen, das den Tumult mitbekommen hatte, anherrschte, Wasser heiß zu machen.
Wo ihr Vater abgeblieben war, wusste Grace nicht, wahrscheinlich machte er gerade Mr Wilkes wach.
Auf ihrem Bett wand sich Victoria in Fieberkrämpfen. Als Grace neben sie trat, warf sie den Kopf hin und her.
»Victoria, Schätzchen«, redete Grace auf sie ein, doch weder ihre Stimme noch ihre Berührung war imstande, ihre Schwester aus dem Alptraum zu wecken. Was war nur los mit ihr?
»Geh von ihr weg, Grace!«, rief ihre Mutter von der Tür.
Grace, die sich gerade neben das Bett ihrer Schwester hocken wollte, blickte sie fragend an. »Aber Mutter, sie …«
»Ein Fieber in diesen Breiten könnte ansteckend sein. Warten wir auf den Arzt.«
»Aber wer weiß, wann der kommt!«
»Bis dahin können wir ohnehin nichts tun. Geh von dem Bett weg, Grace, ich will nicht zwei Töchter krank daniederliegen haben.«
Niedergeschlagen und mit einem Herz übervoll von Sorge kehrte Grace zu ihrer eigenen Schlafstatt zurück.
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