Die Schmetterlingsinsel
schlugen sie sich durchs Gestrüpp, und diesmal glaubte Diana, einen Affen über sich gesehen zu haben. Nur kurz erhaschte sie einen Blick auf braunes Fell, das im Nachhinein genauso gut das Gefieder eines seltsamen Vogels hätte sein können, doch sie wollte glauben, dass es ein Affe war.
Kaum hatten sie die Hecke wieder hinter sich gelassen, lief ihnen der Geschäftsführer über den Weg.
»Nanu, wo kommen Sie beide denn her?«, wunderte sich Manderley, an dessen Khakihosen noch ein paar Teeblätter klebten.
»Wir haben eine Entdeckung gemacht«, antwortete Diana. »Wussten Sie schon, dass sich hinter der Plantage eine ehemalige Kampfschule befindet?«
»Eine Kampfschule?«
Jonathan deutete auf die Lücke in der Hecke. »Ist Ihnen dieser schmale Weg noch nie aufgefallen?«
Manderley schüttelte den Kopf. »Bisher noch nicht. Aber meist habe ich meinen Kopf bei anderen Dingen als beim Rasen.«
»Nun, vielleicht sollten Sie mal einen Blick auf das Gebäude werfen. Es ist zwar durch die Zeit etwas mitgenommen, aber historisch«, wandte Jonathan ein. »Wenn Sie es wieder herrichten lassen, könnten Sie es entweder als Gästehaus benutzen oder als Attraktion in der Gegend vermarkten. Geheime Kampfschulen aus der Kolonialzeit gibt es nicht mehr viele, die Engländer waren ziemlich aufmerksam und nicht alle Kämpfer, die trotzdem geübt haben, hatten ein Haus wie dieses zur Verfügung.«
Manderley machte große Augen. Diana kannte diesen Blick, es war derselbe, wie wenn sie irgendwelchen Klienten klarmachte, welches Potenzial in der richtigen Verteidigungsstrategie steckte.
»Ich werde es mir durch den Kopf gehen lassen. Auf alle Fälle vielen Dank für den Hinweis.«
Mit einem Winken eilte er weiter.
»Wir sollten uns auch wieder an die Arbeit machen, nicht wahr?«, wandte sich Jonathan an Diana.
»Ja, das sollten wir.« Noch einmal drehte sie sich zu der Lücke in der Hecke um, dann blickte sie nach vorn zu dem orientalischen Fenster. Das Fenster, hinter dem sich ihr Zimmer befand.
Auf einmal kam ihr ein Gedanke. Ob es Grace oder Victoria möglich gewesen war, zu sehen, wie die Kämpfer hier langschlichen? Hatten sie sich selbst zu der Kampfschule gewagt?
Diana schüttelte den Kopf. Wahrscheinlich nicht, immerhin waren sie wohlerzogene junge Damen. Doch der Gedanke, dass Grace die Männer beim Kämpfen beobachtet haben könnte, gefiel ihr ausnehmend gut.
Vannattuppucci , 1887
Miss Giles wirkte alles andere als begeistert, als Grace sie zur Unterrichtsstunde abholte. Die Anstandsdame spielen zu müssen, passte nicht so recht in ihren gewohnten Ablauf, außerdem nahm es ihr die Chance, Mr Norris häufiger über den Weg zu laufen. Aber der Anweisung ihres Dienstherrn musste sie sich wohl oder übel fügen.
In Graces Schultertasche befanden sich neben einem Papierstapel aus Vaters Arbeitszimmer auch ein noch frisch versiegeltes Tintenfass sowie ein Federhalter, ein Schächtelchen mit Ersatzfedern und ein Bleistift.
Ein klein wenig fühlte sich Grace wieder in ihre Kindheit zurückversetzt, als sie mit ihren Schulsachen im Unterrichtszimmer von Tremayne House erscheinen musste, wo sie von Mr Norris unterrichtet worden war. Ihr Herz klopfte nervös, als sie Vikrama vor der Tür stehen sah. Ein wenig hatte sie gehofft, dass er die Kleidung der Tamilen tragen würde, doch er steckte in den Sachen, die er heute schon auf der Plantage getragen hatte. Allerdings roch er sehr sauber nach Seife, trug ein neues weißes Hemd mit zarten roten Streifen und hatte seinen Bart wieder gestutzt, so dass er wirklich wie ein junger Dandy aussah.
Als Unterrichtsort suchten sie sich eine freie Fläche nahe des neuen Teefelds, von dem aus man einen guten Blick auf den Adams Peak hatte. Grace erschauderte wohlig bei dem Gedanken, irgendwann einmal dort hinaufzuklettern und dann, wie es die Seeleute behaupteten, die gesamte Insel zu überblicken.
Miss Giles hingegen hatte nicht so viel für die Freuden der Natur übrig. Immer wieder ließ sie Bemerkungen hinsichtlich des Bodenzustandes fallen, und wenn sie sich nicht gerade beklagte, schlug sie nach irgendwelchen Insekten.
»Und wo wollen Sie sich hier hinsetzen?«, tönte es schließlich hinter Grace und Vikrama her.
»Da drüben, Miss Giles!«, rief er und deutete auf ein paar große Steine, die wohl vor sehr langer Zeit mal den Hang hinuntergerollt und hier liegen geblieben waren.
»Wir sollen uns auf Steine setzen?«
»Vorübergehend, Miss Giles«, entgegnete Vikrama,
Weitere Kostenlose Bücher