Die Schmetterlingsinsel
dem Schiff bestimmt deine Zimtmilch vermisst.«
»O ja, und wie!« Grace schloss schwelgend die Augen, während sie in ihrer Erinnerung dem Geschmack nachspürte. Leider war Mrs Haynes in England geblieben, hier mussten sie mit der Köchin ihres Onkels vorliebnehmen. Aber vielleicht kannte die sich ebenfalls in der Verwendung von Zimt aus und ließ sich beschwatzen, ihr mit dieser Art Nachttrunk die Trennung zu versüßen.
Als Kind war sie regelrecht verrückt danach gewesen und hatte alles über den Zimt wissen wollen. Ihr Vater hatte ihre Fragen freundlich, aber bestimmt abgewiesen, ihre Mutter Unwissenheit vorgeschützt. Nur die Köchin, bei der sich Grace verbotenerweise zu gern aufhielt, gab etwas von ihren Kenntnissen preis. »Der Zimt kommt aus Indien und Indonesien«, hatte sie stets geantwortet. »Die Menschen, die ihn anbauen, sind so schwarz wie die Neger von Mr Plummer.«
Damit spielte sie auf die afrikanischen Diener des Earl of Waxford an, die er sich von einer Reise nach Amerika mitgebracht hatte.
Grace hatte daraufhin viele Nächte damit zugebracht, sich das Land vorzustellen, in dem schwarze Menschen den köstlichen Zimt anbauten. Als sie erfuhr, dass sie nach Ceylon umziehen würden, hatte sie diese Geschichten längst vergessen, doch nun, dank des Reiseführers ihrer Schwester, waren sie zum Leben erwacht und milderten auf einmal ein wenig die Hitze und auch die Langeweile.
»Also, fahren wir zu den Zimtgärten?«, quengelte Victoria.
»Du weißt doch gar nicht, wie lange wir hier in Colombo bleiben«, gab Grace zurück, während sie ihrer Schwester den Reiseführer zurückgab. »Die Plantage von Onkel Richard liegt nahe dem Adams Peak. Das ist weitab von hier.«
»Wie es aussieht, werden wir hier noch Wurzeln schlagen!«, entgegnete Victoria und deutete wütend auf das Gebäude des Hafenmeisters. »Vater scheint sich da drin ziemlich wohl zu fühlen. Wenn wir vorhin mit einer Rikscha losgefahren wären, würden wir jetzt schon in den Zimtgärten stehen. Nein, wir würden sogar schon wieder vom Museumsbesuch zurück sein.«
»Sei nicht albern«, mahnte Grace sie kopfschüttelnd. »Sollten wir in den nächsten Tagen noch immer hier sein, werde ich Mutter persönlich fragen. Gegen die Zimtgärten hätte selbst sie nichts einzuwenden, glaube ich.«
»Du meine Güte, wie lange dauert das denn noch!«, wandte sich inzwischen Claudia Tremayne im Zimmer nebenan an ihren Butler Wilkes, während sie vorwurfsvoll aus dem Hotelfenster zu dem Gebäude blickte, in dem ihr Gatte schon vor zwei Stunden verschwunden war. Da der Hafenmeister ohnehin ihre Papiere überprüfen musste, wollte Henry gleich die Gelegenheit nutzen, um sich mit Mr Cahill, dem Anwalt seines Bruders, zu treffen.
»Er wird sicher gleich zurück sein, Madam«, gab Martin Wilkes zurück, der mit seinen fünfzig Jahren noch immer Junggeselle war und beinahe zum Inventar gehörte wie die Koffer.
»Das sagen Sie so, Wilkes! Dabei kennen Sie doch Mr Tremayne!« Claudia, die bei Aufregung immer in den schottischen Akzent ihrer Heimat verfiel, warf einen prüfenden Blick durch die Verbindungstür zum Zimmer ihrer Töchter. Die beiden beugten sich gerade über ein schmales Büchlein, das Victoria offenbar erstanden hatte, als sie Wilkes zum Harbour Office begleitete.
Etwas wehmütig stellte Claudia fest, dass Grace wie eine verjüngte Version ihrer Mutter aussah, an die sie sich trotz ihres frühen Todes immer noch gut erinnern konnte. Claudia hatte Bella Avery wegen ihres rotgoldenen Haars, des blassen Teints und der grünen Augen immer bewundert.
Sie selbst war eher nach ihrem Vater geraten, grobknochig, zäh, dunkelhaarig. Manchmal fragte sie sich, wie Henry Tremayne, der gutaussehende Sohn eines einflussreichen Parlamentsmitglieds, gerade auf sie hatte aufmerksam werden können. Damals, als sie vor Königin Victoria debütierte, wurde Henry von so vielen schönen Mädchen umgeben, dass sie wegen ihres dunklen Haars nicht unter ihnen auffiel. Und dennoch war er eines Tages bei ihrem Vater erschienen und hatte gebeten, ihr den Hof machen zu dürfen.
Der erste Sohn des Hauses Tremayne wäre ihren Eltern zwar lieber gewesen, doch schon damals zeigte Richard Anzeichen von Rebellion gegen sein angestammtes Erbe. Spätestens, als er nach Ceylon zog, um sich dem Abenteuer des Teeanbaus zu widmen, waren Claudias Eltern zufrieden, wurde doch nun Henry, den sie zwischenzeitlich geehelicht hatte, zum Erben der Tremaynes und zum Besitzer von
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