Die Schmetterlingsinsel
besonders ins Auge. Ihre türkisfarbenen und grellrosa Saris bildeten einen reizvollen Kontrast zu ihrer goldbraunen Haut und dem rabenschwarzen Haar. Natürlich zogen sie damit die Aufmerksamkeit sämtlicher Männer, egal welcher Nation, auf sich.
Grace musste zugeben, dass allein der Anblick des Hafens wesentlich reizvoller war als alles, was sie im tristen grauen London betrachten konnte. Aber in jenem grauen und nebelverhangenen Ort hatte sie nun mal ihre Freundinnen. Wahrscheinlich sind Eliza und Alyson gerade dabei, ihre Kleider für den Debütantinnenball anzuprobieren, dachte Grace traurig. Der Termin, den sie sich nun seit Monaten merkte, war bald heran – doch anstatt sich ebenfalls für den Ball und die anschließende Saison zu rüsten, befand sie sich am anderen Ende der Welt, in sengender Hitze und von Fischgeruch umgeben. Das Debüt vor Königin Victoria war aufgeschoben worden, »so lange, bis Papa die Plantage ins Laufen gebracht hat«, so die Worte ihrer Mutter.
Grace wusste es besser. Auch wenn man offiziell den Mantel des Stillschweigens über die Angelegenheit breitete, war es doch nicht zu übersehen, dass sie Schwierigkeiten hatten, die nur durch die Übernahme der Plantage gelöst werden konnten. Der alte Familienbesitz in Schottland fraß ein Loch in die Kasse des Tremayne-Haushaltes, und auch der Stammsitz nahe London wollte unterhalten werden.
Ihr Vater hatte schon lange nicht mehr mit ihrem verstorbenen Onkel Richard gesprochen – ebenso wie man die finanzielle Misere verschwieg, wurde auch er verschwiegen – ja, es wurde sogar geleugnet, dass er der erfolgreichere der beiden Brüder war. Die Plantage musste nicht ins Laufen gebracht werden, sie lief, das hatte sie einem Schreiben entnommen, das sie im Arbeitszimmer ihres Vaters gefunden und unerlaubterweise gelesen hatte. Und die Umstände des Todes ihres Onkels …
»O sieh mal!«, kreischte Victoria und klatschte in die Hände, als sei sie vier und nicht dreizehn Jahre alt. »Hier ist eine Karte! Und darauf ist sogar die Irrenanstalt eingezeichnet.«
»Irrenanstalt?«, wiederholte Grace verwundert.
»Eine der Sehenswürdigkeiten, die im Reiseführer aufgezählt werden. Das Gebäude soll ganz neu und sehr sehenswert sein.« Victoria klappte die Landkarte wieder ein und blätterte umständlich in dem Büchlein, bis sie die entsprechende Stelle gefunden hatte, aus der sie rezitierte: »Das Neue Irrenhaus, eine wohltätige Institution, die allein vom Government unterstützt wird, hat der Kolonie in der Vergangenheit sehr viel Kopfzerbrechen verursacht. Die Kosten von sechshunderttausend Rupien für seine Errichtung erschienen vielen als unnötig, weshalb die ursprünglichen Baupläne verändert werden mussten. Vierhundert einheimische Irre sind in diesem Bau untergebracht, der zu den größten zählt, die wir dem Gouverneur Sir James R. Longden verdanken.«
»Irrenhäuser hättest du dir in ganz England anschauen können«, bemerkte Grace lakonisch. »Ich erinnere mich nicht, dass du vor ein paar Monaten schon Interesse an diesen wohltätigen Institutionen gezeigt hättest.«
»Weil Mama bei dem Vorschlag, eines von ihnen zu besuchen, sicher einen Anfall bekommen hätte«, entgegnete ihre Schwester unbeirrt.
»Den bekommt sie auch jetzt.«
»Weshalb ich dir davon erzähle und nicht ihr!«, gab Victoria schlagfertig zurück.
»Du solltest vielleicht besser nach irgendwelchen Kirchen oder Tempeln Ausschau halten. Dorthin würde Mama dich sicher gehen lassen.«
»Kirchen sind langweilig, aber die Tempel hier sollen wirklich schön sein.« Erneut fing Victoria an zu blättern. Nach einer Weile wurde sie fündig.
»Hier schau mal, das muss dich doch auch interessieren!« Sie hielt ihrer Schwester das Buch so dicht unter die Nase, dass sie gar nicht anders konnte als hinschauen.
»Die Zimtgärten«, las Grace vor. »Gleich in der Nähe gibt es ein Museum, Mutter braucht also keine Angst um unsere geistige Erbauung zu haben.«
Grace wollte auch diesen Vorschlag zurückweisen, doch sie musste zugeben, dass die Zimtgärten ihr Interesse weckten. Sie liebte das Gewürz, das ihre Köchin Mrs Haynes manchmal Süßspeisen und Kuchen zugefügt hatte.
Victoria schien das Bröckeln ihrer Abwehr zu bemerken, denn sie fuhr fort: »In den Zimtgärten kannst du dir ansehen, wie die Zimtrinde von den Bäumen geschält und anschließend getrocknet wird. Wenn wir dort sind, dürfen wir vielleicht ein wenig davon mitnehmen. Du hast auf
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