Die Schmetterlingsinsel
Fächer. Die Gravuren auf den Deckeln bestanden aus den schneckenartigen Buchstaben, die sie auch auf dem Blatt gesehen hatte, und wurden von kunstvollen Mustern eingerahmt. Auf manchen »Buchdeckeln« befand sich nur das Muster.
»Und du meinst, mein Blatt ist eine Seite aus einem dieser Bücher?«
Michael schüttelte den Kopf, schob dann seine Brille wieder hoch. »Nein, meine Liebe, das hier ist etwas ganz anderes. Normalerweise dürftest du gar nicht im Besitz dieses Blattes sein.«
»Aber wieso? Ist es etwa verboten, das einzuführen? Dann kann ich zu meiner Verteidigung sagen, dass es wahrscheinlich mehr als hundert Jahre alt ist.«
Michael setzte sich auf den Tisch. Hinter seiner Stirn schienen die Gedanken zu rasen. Nachdem er den Kopf geschüttelt hatte, als könnte er das alles nicht glauben, erklärte er: »Du hast, davon bin ich überzeugt, ein Blatt aus den sagenhaften Palmblattbibliotheken gefunden, einem uralten indischen Orakel. Die meisten sind in Alt-Tamil abgefasst, einer Sprache, die heute kaum noch jemand versteht. Eine der Legenden um die Palmblätter erzählt davon, dass Bringhu, der Sohn eines Weisen, der das Privileg genoss, mit den Göttern zu verkehren, eines Tages die Unverfrorenheit besaß, Vishnu zu ohrfeigen. Dafür belegte ihn Vishnus Gemahlin Lakshmi mit dem Fluch der Glücklosigkeit. Obwohl Bringhu tiefe Reue zeigte, konnte die Göttin den Fluch nicht zurücknehmen. Sie gewährte ihm allerdings Einblick in eine sagenhafte kosmische Schriftrolle, die es ihm ermöglichte, das Schicksal aller Menschen zu kennen. Die Göttin befahl ihm, die von ihm gesehenen Schicksale von Brahmanen auf Palmblätter aufzeichnen zu lassen.«
»Klingt interessant«, entgegnete Diana, wenngleich ihr diese Information herzlich wenig bezüglich ihrer Familiengeschichte brachte. »Dieses Blatt wurde vielleicht von irgendeinem Kolonialisten entwendet. Genau weiß ich es leider noch nicht.« Ihre Vermutung, dass das Palmblatt die Gabe für Grace sein könnte, behielt sie für sich.
»Möglich wäre es«, gab Michael zurück. »Dem Kolonialisten war offenbar nicht klar gewesen, dass das Entwenden eines dieser Blätter großes Unglück nach sich ziehen soll. Normalerweise werden Palmblätter niemals herausgegeben, sondern von sogenannten Nadi-Readern ausgelesen und interpretiert. Die Menschen lassen sie sich vorlesen, um etwas über das eigene Schicksal in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu erfahren. Manchmal gibt es auch Aufschluss über frühere Leben, die man geführt hat, denn wie du vielleicht weißt, glauben die Hindus ebenso wie die Buddhisten an Wiedergeburt und das Nirvana.«
»Das man erst betreten kann, wenn sich der betreffende Mensch von allen Sünden befreit und Buße getan hat.«
Die Hippiezeit war zu ihrer Studienzeit zwar längst vorbei gewesen, aber dennoch hatten sich recht viele Studenten in ihrem Jahrgang zum Buddhismus hingezogen gefühlt.
»So kann man es ausdrücken. Wenn man es nicht schafft, sein Karma positiv zu beeinflussen, durchläuft man Reinkarnationen, bis man begriffen hat, was man tun darf und was nicht. Vereinfacht gesagt.«
Ein Schauder lief über Dianas Arme. Könnte es sein, dass Henry Tremayne diesen Fluch über seine Familie gebracht hatte? Oder vielleicht der verunglückte Richard? Weil er ein Palmblatt aus einer Bibliothek entwendet hatte?
»Sollte an diesem Fluch wirklich etwas dran sein?«
»Nun, das muss jeder für sich entscheiden. Berichte erzählen, dass Menschen, die beispielsweise den Maori einen heiligen Gegenstand stehlen, vom Pech verfolgt werden oder sogar unter seltsamen Umständen sterben. Vom modernen wissenschaftlichen Standpunkt her kann ich es nur begrüßen, wenn etwas, das nicht hierher gehört, wieder an seinen eigentlichen Bestimmungsort gebracht wird – natürlich nachdem man ausführliche Aufnahmen beziehungsweise eine Kopie davon gemacht hat. Wo wir bei der Frage wären, ob du mir gestattest, diese Kostbarkeit abzufotografieren.«
»Natürlich«, gab Diana ein wenig unsicher zurück, denn ihre Gedanken waren noch immer bei den Flüchen und dem, was Emmely auf ihrem Sterbebett gesagt hatte.
»Es ist wirklich faszinierend.« Michael sah sie fast schon bohrend an. »Mich würde interessieren, wo du es herhast.«
»Ich habe es in einem Geheimfach gefunden.«
»Das sich wo befindet?«
»In einem alten Herrenhaus in England. Meine Tante ist gestorben und hat mir aufgetragen, ein Schließfach zu öffnen. Da war es drin.«
»Tut
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