Die Schmetterlingsinsel
mir leid«, gab Michael zurück. »Das mit deiner Tante. Dein Fund jedenfalls ist sensationell.«
Sollte ich ihm vielleicht auch von den anderen Fundstücken erzählen? Diana entschied sich dagegen und fragte stattdessen: »Kann man herausfinden, aus welcher der Bibliotheken dieses Blatt stammt? Damit ich es zurückgeben kann, meine ich.«
»Nun, das dürfte schwierig werden. Selbst wenn du jede der Bibliotheken aufsuchst, wird dir niemand sagen können, ob das Blatt gerade aus ihrer Bibliothek stammt. Wie du siehst, ist es nicht katalogisiert worden.«
»Aber irgendwo muss doch aufgefallen sein, dass eins fehlt.«
»Bei der Masse an Blättern wird niemandem etwas auffallen. Nur könnte es sein, dass jemand, der nach seinem Schicksal sucht, es nicht finden kann, weil sein Blatt die ganze Zeit über in einem Schließfach geschlummert hat.«
»Gibt es denn für jeden Menschen solch ein Blatt?«
»Nein, aber sehr viele. Ich persönlich begründe das immer damit, dass viele Seelen neu auf die Welt kommen und noch gar kein Karma haben. Die meisten Menschen, die ihr Schicksal auf den Blättern finden, haben nach Ansicht der Brahmanen viele Leben und Inkarnationen hinter sich.«
Diana blickte auf das Blatt. Ihre Neugierde zerfetzte sie geradezu. Was stand darauf? Wem wurde dort das Schicksal prophezeit? Grace oder ihrem geheimnisvollen Liebhaber? Vielleicht einem anderen Familienmitglied? Auf einmal sehnte sie sich wieder danach, mit Emmely zu sprechen. Warum hatte sie ihr nie etwas über die Zeit ihrer Großmutter in Sri Lanka erzählt? Über die Brüder Henry und Richard? Warum waren die beiden ebenso wie Henrys Töchter Zahlen und Fakten in ihrer Ahnenreihe geblieben, Gesichter auf Bildern, deren Firnis langsam vergilbte.
War das, was Victoria ein schlechtes Gewissen gemacht hatte, so schrecklich gewesen?
»Und was soll ich nun tun?«, hörte sie sich schließlich fragen.
»Am besten, du findest jemanden, der dir dieses Blatt erst einmal ausliest«, antwortete Michael, während auch er den Blick nicht von dem Palmblatt nehmen konnte. »Vielleicht gehörte es ja einem Familienmitglied. Wenn du den Reader gefunden hast, kann er dir vielleicht auch sagen, zu welcher Bibliothek es gehört. Aber das verspreche ich dir lieber nicht, wie gesagt, es gibt eine Unmenge von diesen Blättern.«
»Das heißt, ich müsste nach Indien.«
»So sieht es aus, denn ich glaube nicht, dass es außerhalb von Indien Nadi-Reader gibt.«
»Oder Sri Lanka.« Der Reiseführer fiel ihr wieder ein. »Gibt es in Colombo auch so eine Bibliothek?«
»Wie kommst du gerade auf Colombo?«, wunderte sich Michael.
»In dem Schließfach befand sich auch ein uralter Reiseführer. Deshalb meine Annahme, dass dieses Palmblatt aus dem späten neunzehnten Jahrhundert stammt.«
»Es ist wahrscheinlich viel älter. Wenn du es mir eine Weile überlässt, kann ich dir sogar genau sagen, wann es erstellt wurde.«
»Du kannst es in den nächsten Tagen untersuchen. Ich werde noch ein Weilchen dafür brauchen herauszufinden, wo ich eigentlich hin muss.«
Michael strahlte übers ganze Gesicht. »Wenn du es mir überlässt, werde ich es fotografieren und Proben für eine Altersbestimmung entnehmen. So etwas bekommt man nicht so schnell wieder in die Hand.«
»Aber ich würde es gern wiederhaben!«, entgegnete Diana.
»Keine Sorge, das wirst du. Ich rufe dich an, sobald ich Fotos gemacht und Proben genommen habe. Dauert nur ein paar Tage.«
Colombo, 1887
Am nächsten Morgen bekam Victoria tatsächlich von ihrer Mutter die Erlaubnis, zu den Zimtgärten zu fahren. Wegen ihrer Migräne, die wahrscheinlich der Hauptgrund für ihr Nachgeben war, konnte sie selbst nicht mitkommen, doch sie gab den Mädchen Miss Giles und Mr Wilkes an die Seite, damit sie nicht verloren gingen.
Dass ihre beiden Begleiter wie die Schießhunde auf sie acht geben würden, schien Victoria nicht im Geringsten zu bekümmern.
»Vielleicht nimmt der Kutscher den Weg, der an der Irrenanstalt vorbeiführt«, flüsterte sie Grace verschwörerisch zu, nachdem sie in der Kutsche Platz genommen hatten.
»Und was willst du dort sehen? Ein deprimierendes Gebäude, umgeben von einem hohen Zaun?«
»Das mag es für dich sein, doch wer weiß, welche jungen Damen dort unschuldig eingewiesen wurden, weil ihre verbrecherischen Ehemänner hinter ihrem Erbe her sind.«
Grace konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. »Du hast wieder eine von diesen Sixpence-Novels gelesen, nicht
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