Die Schmetterlingsinsel
werden versprach als die Fahrt an dem etwas eintönig wirkenden Haupthaus vorbei.
Wie gern wäre ich jetzt in London, dachte Grace gelangweilt. Nicht nur dem Debüt, das sie nie haben würde, trauerte sie nach, auch den Frühjahrsbällen, die die Grundbesitzer in ihrer Gegend reihum gaben. Es würde ihr schrecklich fehlen, Pasteten und Konfekt zu naschen und Quadrillen zu tanzen. Stattdessen wurde sie durch die Gluthitze gekarrt, um zuzusehen, wie Zimt hergestellt wurde, den sie zugegebenermaßen mochte, dessen Entstehung ihr allerdings recht egal war.
Gedankenverloren beobachtete sie die Arbeiter dabei, wie sie die Rinde von den Zimtbäumen schälten, sie weitergaben, damit sie gerollt wurden und dann am Wegrand zu Bündeln verschnürt lagerten. Die Bündel befanden sich alle in unterschiedlichen Trocknungsstadien. Während einige eher verschrumpeltem Holz ähnelten, sahen andere bereits aus wie die Zimtstangen, die ihre Köchin immer in einem Deckelglas aufbewahrt hatte.
»Wir sollten Papa einige von den Zimtzigarren mitnehmen«, schlug Victoria vor.
»Meinst du wirklich, dass er die rauchen will?«
»Er raucht diese schrecklichen Zigarren, die ihm seine Freunde aus Sumatra schicken«, hielt Victoria fast schon altklug dagegen. »Warum nicht Zimtzigarren? Die riechen sicher wesentlich besser.«
»Also gut, meinetwegen kauf ihm ein paar davon«, sagte Grace. »Ich werde ein paar Zimtstangen kaufen, für den Fall, dass es auf Onkel Richards Plantage keine gibt. Wer weiß, wann wir das nächste Mal in einen Laden kommen, wenn wir erst einmal da sind.«
An einem kleinen Stand deckten sie sich mit ein paar Schachteln Zimt und ein paar Zimtzigarren ein, doch anstatt mit Grace zur Kutsche zurückzukehren, entfernte Victoria sich ein paar Schritte und blieb schließlich stehen.
»Victoria!«, rief Grace ihr hinterher, doch es blieb ihr nichts anderes übrig, als ihr zu folgen.
»Sieh mal dort drüben!« Victoria deutete auf die Häuser jenseits der Büsche, die den Rand der Plantage markierten. Stimmengewirr drang von dort herauf. Ein schmaler Trampelpfad wand sich durch das Gewirr von Frangipani-Büschen. »Was ist, hast du Lust auf ein Abenteuer?«
»Du meinst, wir sollten dort hingehen?« Grace blickte sich zu Mr Wilkes und Miss Giles um, die immer noch am Stand für Zimtstangen standen und sich mit dem Verkäufer unterhielten.
»Warum nicht? Ich hatte mich getäuscht, als ich gedacht habe, die Zimtgärten wären ein aufregender Ort. Wie du siehst, herrscht hier gähnende Langeweile. Aber dort unten«, sie deutete auf die Dächer, vor denen der Trubel aufwallte, »pulsiert das Leben. Schon in der Kutsche habe ich große Lust darauf gehabt, mich in die Menge zu stürzen. Vielleicht finden wir ja den Tempel, zu dem die Elefanten gezogen sind.«
»Aber Miss Giles und Mr Wilkes haben den Auftrag bekommen, uns nicht allein zu lassen.«
»Die werden unsere Abwesenheit gar nicht mitbekommen.«
Ohne sich nach ihren Aufpassern umzudrehen, lief sie auf den kleinen Pfad zu.
»Aber …« Grace stockte. Sie brauchte nur zu schreien, um den Butler und die Gouvernante auf den Plan zu rufen. Victoria würde von ihnen zurück in die Kutsche gezerrt werden und schmollen, aber das würde schon wieder vergehen.
Doch Grace brachte es nicht über sich, ihre Schwester zu verraten. Da Victoria bereits im Gebüsch verschwunden war, raffte sie ihren Rock hoch und lief, so schnell sie konnte, hinterher.
»Du willst also doch mitkommen«, stellte Victoria triumphierend fest, während sie Zweige und kleine Ranken beiseitestrich, die ihnen den Weg versperrten.
»Nur, um aufzupassen, dass du keinen Unsinn machst.«
Victoria lächelte still in sich hinein. Es müsste doch schon mit dem Teufel zugehen, wenn sie ihre ältere Schwester nicht dazu bringen würde, die Fesseln des Erwachsenseins abzulegen. Früher nämlich hatte Grace jeden Spaß mitgemacht und sich nicht nur um Kleider und Bälle gekümmert. Sie hatten sich im Garten unter den Rosenhecken oder in den Laubengängen des Parks versteckt und sich Geschichten ausgedacht. Doch dann hatte ihre Mutter begonnen, Grace auf das Erwachsensein vorzubereiten. Von heute auf morgen gab es nur noch Bälle, Teestunden und Kleideranproben. Victoria graute vor all dem, das sie zweifelsohne auch erwarten würde, wenn sie sechzehn war. Und so wollte sie ihre Kindheit in vollen Zügen genießen – und Grace wieder daran erinnern, wie es früher gewesen war.
Dass sie ihr durch das
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