Die Schmetterlingsinsel
wahr?«
»Ich?« Vergeblich bemühte sich Victoria um eine Unschuldsmiene. »Das sei fern von mir! Du weißt, was Vater über diese Art von Literatur denkt.«
»Das hat dich doch bisher auch nicht davon abgehalten, sie zu lesen. Versteckst du sie in einem Geheimfach in deinem Koffer?«
Ein schelmisches Lächeln schlich sich auf Victorias Lippen. »Du weißt also davon?«
Grace nickte.
»Und du hast Papa nichts davon erzählt?«
»Du bist meine Schwester, schon vergessen? Schwestern verraten einander nicht.«
Victoria kuschelte sich nun liebevoll an ihren Arm. »Danke, Schwesterherz! Wenn du willst, leihe ich dir mal ein paar davon.«
»Ich glaube nicht, dass mich die Abenteuer von Lord Ruthven interessieren, aber danke für das Angebot.«
Als Miss Giles und Mr Wilkes ebenfalls die Kutsche bestiegen hatten, ging die Fahrt los.
Der Wagenlenker, ein Einheimischer in Diensten des Hotels, verstand es geschickt, die Menschengruppen, Rikshas und Ochsenkarren zu umgehen. Nur einmal, als sich ihnen eine Gruppe von Elefanten in den Weg stellte, waren sie zum Halten gezwungen.
»Was für prachtvolle Riesen!«, staunte Victoria über die Dickhäuter, denen man farbenfrohe Decken übergelegt hatte und die teilweise pagodenähnliche Aufbauten auf dem Rücken trugen.
»Elefanten auf Weg zu Tempel«, erklärte der Kutscher. »Sein heilig, wir warten müssen.«
Da die Prozession der Elefanten eine Weile dauerte, begann Miss Giles unter der glühenden Sonne bereits um ihren Teint zu fürchten.
»Wir werden uns alle furchtbar verbrennen, wenn wir weiterhin stehenbleiben. Miss Grace, ziehen Sie doch den Hut ein wenig mehr ins Gesicht. Das gilt auch für Sie, Miss Victoria.«
Beide junge Frauen kamen der Aufforderung nach, doch Victoria schnitt ihrer Gouvernante eine Grimasse, als Miss Giles ängstlich zur Seite schaute, wo ein kleiner Junge ihr eine geschnitzte Figur hinstreckte.
Die Cinnamon Gardens waren mehr ein Stadtteil als ein wirklicher Garten. Zwischen den Anpflanzungen der Plantage und an deren Rand erhoben sich zahlreiche Häuser. Im Zentrum stand ein großes Gutshaus, umgeben von Gärten mit weißem Sand, in dem die Bäume gediehen, aus denen man den Zimt gewann.
»Wenn wir Glück haben, können wir eine Führung mitmachen«, verkündete Victoria begeistert. »Das steht hier jedenfalls in dem Reiseführer.«
Miss Giles blickte ein wenig leidend auf die Wege, die sich zwischen den Bäumen hindurchschlängelten, als wüsste sie bereits jetzt, dass ihre Stiefeletten ihr ganz furchtbare Qualen bereiten würden.
»Ich bin sicher, dass man diesen Führer mit in die Kutsche holen kann«, behauptete Mr Wilkes, der sich sogleich auf die Suche nach jemandem machte, der sich auskannte.
Grace bemerkte, dass Victoria vor sich hin brütete. Den ganzen Morgen über hatte sie die Nase in dem Reiseführer stecken gehabt. Wie in einem alten Märchen hatte sie offenbar an dem, was sie bekommen konnte, nicht genug.
»Da hast du nun deine Zimtgärten«, sagte Grace und deutete auf die Bäume, die so gar nicht nach Zimt aussahen. »Warum ziehst du trotzdem so ein langes Gesicht?«
»Ich ziehe kein langes Gesicht!«, behauptete Victoria. »Ich denke nur nach.«
»Worüber?«
»Über dieses und jenes.«
»Für eine junge Dame ist es nicht gut, ihre Gedanken einfach ziellos umherirren zu lassen«, fühlte sich Miss Giles bemüßigt, hinzuzufügen.
Grace ahnte jedoch, warum ihre Schwester verstimmt war. Entgegen ihrer Hoffnung war die Kutsche nicht am Irrenhaus vorbeigekommen – worüber sie selbst ganz froh war, denn die Geschichten, die man sich bereits in London von solchen Orten erzählte, waren ganz grauenhaft.
Nach einer Weile gelang es Mr Wilkes, jemanden aufzutreiben, der bereit war, sie durch die Plantage zu führen. Der kleine, etwas untersetzte junge Mann, dessen Hautton an Haselnüsse erinnerte, erklärte ihnen gleich beim Einsteigen in die Kutsche, dass sie ein Stück würden laufen müssen, da die Wege zwischen den Bäumen zu schmal seien, um mit einer Kutsche durchzukommen.
Aber vorerst erläuterte er ihnen in fast unverständlichem Englisch die Geschichte der Plantage, die schon zu Zeiten der Niederländer existiert habe und von den Engländern schließlich zu vollster Blüte gebracht worden war. Als sie schließlich haltmachten, weil die befürchtete Wegenge erreicht war, stieg Miss Giles nur widerwillig aus. Obwohl der Weg zu den Zimtbäumen nicht sonderlich weit war und wesentlich interessanter zu
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