Die Schnapsstadt
das Visier darüber dreieckig; die Pistole fühlte sich kühl an, den Griff schmückte ein Stern. Alles war in Ordnung, von einer Sinnestäuschung konnte keine Rede sein. Ich bin nicht betrunken. Ich bin Sonderermittler Ding Gou'er. Ich bin nach Jiuguo abgeordnet worden, um gegen eine Gruppe von Parteikadern unter der Führung von Jin Gangzuan zu ermitteln. Man wirft ihnen Kannibalismus vor. Ein schwer wiegender Vorwurf, ein sehr schwer wiegender Vorwurf, ein vernichtender Vorwurf, eine weltweit unerhörte Grausamkeit, ein Fall von Korruption, wie es ihn in der Geschichte der Menschheit noch nie gegeben hat. Ich bin nicht betrunken. Ich unterliege keiner Sinnestäuschung. Wenn sie glauben, sie könnten damit durchkommen, irren sie sich. Man hat mir ein gebratenes Kind serviert. Sie nennen es Der Storch bringt einen Sohn. Ich bin bei klaren Sinnen, aber sicherheitshalber werde ich meinen Verstand noch einmal überprüfen: Fünfundachtzig mal fünfundachtzig ist siebentausendzweihundertfünfundzwanzig. Gut so! Damit ist alles klar. Sie haben einen kleinen Jungen umgebracht und ihn mir zum Abendessen serviert. Diese Verschwörer wollen mich zum Mitschuldigen machen, indem sie mir sein Fleisch in den Mund schieben. Er zog die Pistole.
«Keine Bewegung!», befahl er. «Hände hoch, ihr Ungeheuer!»
Die drei Männer blieben verblüfft und stumm sitzen. Nur die Mädchen in den roten Uniformen kreischten auf, stürzten kopflos durch den Raum und kuschelten sich aneinander wie eine Schar erschreckter junger Hühner. Mit der Pistole in der Hand schob Ding Gou'er den Tisch beiseite und trat ein paar Schritte zurück, bis er mit dem Rücken am Fenster stand. Wenn sie Kampferfahrung hätten, dachte er, würde es ihnen leicht fallen, mir die Pistole aus der Hand zu reißen. Aber sie hatten keine Kampferfahrung, und jetzt blickten die drei in den Lauf seiner Pistole. Wenn sie wussten, was gut für sie war, würden sie sich keinen Schritt bewegen. Als er aufstand, war seine Aktentasche zu Boden gefallen. Die Haut zwischen Daumen und Zeigefinger konnte den kalten Stahl der Waffe spüren. Er überprüfte die leichte Spannung des Abzugs. Den Sicherungsbügel hatte er umgelegt, als er die Pistole aus der Aktentasche zog. Patrone und Zündnadel waren einsatzbereit. Ein Fingerdruck, mehr brauchte es nicht.
«Ihr Schweine!», sagte er kühl. «Ihr dreckigen Faschisten! Hände hoch, habe ich gesagt!»
Jin Gangzuan hob langsam die Hände über den Kopf. Der Parteisekretär und der Bergwerksdirektor schlossen sich seinem Beispiel an.
«Genosse Ding, alter Knabe», fragte Jin Gangzuan lächelnd, «finden Sie nicht, dass dieser Scherz ein bisschen zu weit geht?»
«Scherz?», erwiderte Ding Gou'er zähneknirschend. «Was gibt es hier zu lachen, ihr Kinder fressenden Ungeheuer?»
Jin Gangzuan warf den Kopf zurück und brach in schallendes Gelächter aus. Der Parteisekretär und der Bergwerksdirektor lachten ebenfalls, auch wenn ihr Lachen eher töricht klang.
«Ding, alter Knabe, mein guter Ding», sagte Jin Gangzuan, «Sie sind ein guter Genosse mit einem ausgeprägten Sinn für humanistische Werte, und ich habe Respekt vor Ihnen. Aber Sie haben Unrecht. Sie sind einem subjektiven Irrtum erlegen. Sehen Sie doch einmal genau hin! Ist das ein kleiner Junge?»
Seine Worte übten die gewünschte Wirkung aus. Ding Gou'er wandte sich um und sah den Jungen auf dem Tablett genau an. Das Kind lächelte immer noch mit leicht geöffneten Lippen, als wolle es etwas sagen.
«Er wirkt unglaublich echt», sagte Ding Gou'er laut.
«Richtig: Er wirkt echt», nahm Jin Gangzuan seine Formulierung auf. «Und warum wirkt dieser imitierte Junge so echt? Weil die Köche von Jiuguo außergewöhnlich begabte, einmalige Meister ihres Gewerbes sind.»
Der Parteisekretär und der Bergwerksdirektor schlossen sich seinem Lob an:
«Und das ist noch nicht alles! Es gibt eine Professorin an der Akademie für Kochkunst, die sie so herstellen kann, dass sogar ihre Augenlider sich bewegen. Da traut sich niemand mit den Stäbchen dran.»
«Genosse Ding, alter Knabe, legen Sie die Pistole weg und greifen Sie zu den Essstäbchen. Kosten Sie gemeinsam mit uns dieses einmalige Gericht.» Jin Gangzuan senkte die Hände und winkte Ding Gou'er einladend zu.
«Nein!», erwiderte Ding Gou'er entschlossen. «Ich teile hiermit mit, dass ich nicht an diesem Ihrem Festmahl teilnehmen werde.»
Leicht irritiert sagte Jin Gangzuan mit ruhiger Stimme: «Sie sind stur, Genosse Ding,
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