Die Schnapsstadt
kleinen Dämon in Rot zu bringen.
Die Straße war breit und eben und schien kein Ende zu nehmen. Nur noch wenige welke Blätter hingen an den dichten, gleichmäßigen Zweigen der Pappeln am Wegrand. Gelegentlich ließ sich das Tschilpen eines Spatzen oder das Krächzen einer Krähe vernehmen. Der Himmel war hoch und wolkenlos; die Luft war klar. Aber Jin Yuanbao hatte keine Zeit, den Anblick zu genießen. Wie ein Kaninchen, das dem Wolf entkommen will, rannte er durch die Herbstlandschaft.
Gegen Mittag kam er müde und durstig in der Stadt an. Xiaobao lag so heiß wie glühende Schlacke in seinem Arm. Er griff in die Tasche, entdeckte, dass er noch ein paar Münzen besaß, und machte sich auf den Weg in die Kneipe. Er setzte sich an einen Ecktisch und bestellte eine Schale vom billigsten Schnaps. Den größten Teil schüttete er Xiaobao in die Kehle. Für sich selbst behielt er nur einen Schluck. Er hob die Hand, um die Fliegen zu verscheuchen, die um Xiaobaos Kopf schwirrten, und erstarrte, als habe ihn der Blitz getroffen:
Dort drüben, in der gegenüberliegenden Ecke, saß der bärtige Mann. Der kleine Dämon, der Jin Yuanbao so erschreckt hatte, saß mit gekreuzten Beinen auf dem Tisch und schüttete den Schnaps hinunter, als wäre es Wasser. Seine routinierten Bewegungen verrieten, dass er an eine derartige Umgebung gewöhnt war. Nur sein Körper wollte weder zu seinen Bewegungen noch zu seinem entspannten Verhalten passen. Der kleine Dämon bot den Kellnern und den Kunden der Kneipe, die ihn fasziniert anstarrten, ein groteskes Schauspiel. Aber der Bärtige schien sich nicht um die Blicke zu kümmern, die auf ihn gerichtet waren. In seine Schale Durchdringender Duft vertieft, hatte er keine Zeit, sie wahrzunehmen. Jin Yuanbao trank eilig seinen Schnaps aus, warf vier Münzen auf den Tisch, packte Xiaobao und stürzte aus dem Lokal. Den Kopf hielt er so tief gesenkt, dass er fast die Brust berührte. Als überzeugter Materialist war er im Dorf für seinen Mut bekannt. Aber heute war alles anders. Jin Yuanbao hatte sich in einen Mann verwandelt, den panische Angst jagte.
Als Jin Yuanbao in der Schlange vor der Abteilung für Sondereinkäufe der Akademie für Kochkunst stand, war es Zeit für den Mittagsschlaf. Die Abteilung war in einem fleckenlos weißen Gebäude mit einem Kuppeldach untergebracht, das von einer hohen Backsteinmauer mit einem Mondtor umgeben war. Ein Garten mit exotischen Pflanzen und Blumen, immergrünen Ranken und üppigen Hecken umgab einen ovalen Teich mit einem künstlichen Hügel, der Wasser ausspie wie ein Vulkan. Die Fontäne stieg auf wie eine Chrysanthemenblüte, deren Blätter in ewigem Kreislauf erblühten und fielen. Geräuschvoll sprudelnd fiel das Wasser auf die Oberfläche des Teichs, in dem Schildkröten mit fein gezeichneten Hornschilden lebten. Obwohl Jin Yuanbao schon zum zweiten Mal hier war, war er immer noch nervös und gespannt, wie jemand, der die Grotte der Feen betritt. Jede Pore seines Körpers zitterte in der Erwartung von Glück und Segen.
Etwas über dreißig Leute standen vor dem Stahlgitter aufgereiht. Yuanbao stellte sich ans Ende der Schlange, genau hinter den Bärtigen und den kleinen Dämon in Rot. Der Kopf des Kleinen sah über die Schulter des Bärtigen hinweg und blickte ihn mit einem Blick voll unaussprechlicher Bosheit an.
Yuanbao öffnete den Mund, um zu schreien. Aber er konnte nicht schreien. Nicht hier.
Zwei nervenaufreibende Stunden später ertönte im Gebäude ein Glockenschlag. Die müden und erschöpften Menschen in der Schlange erwachten wieder zum Leben, standen auf und fingen an, die Gesichter der kleinen Jungen in ihren Armen zu waschen, ihnen die Nase zu putzen oder ihre Kleidung in Ordnung zu bringen. Einige Mütter puderten sogar die Gesichter ihrer Söhne mit einem Wattebausch und trugen spuckegetränktes Rouge auf ihre Wangen auf. Jin Yuanbao wischte Xiaobaos verschwitztes Gesicht mit dem Jackenärmel ab und fuhr ihm mit den Fingern durchs Haar. Nur der Bärtige blieb ruhig und gefasst. Der kleine Dämon lag in seine Arme gekuschelt und warf aus kalten Augen einen stillen, kühlen, abschätzigen Blick auf die Szene.
In ihren Angeln knirschend öffnete sich die schwere Stahltür und gab den Blick auf einen hellen, weiten Raum frei. Es war Einkaufszeit. Nur das leise Weinen der Kinder durchbrach die Stille. Die gedämpften Stimmen der Aufkäufer, die mit den Eltern verhandelten, tauchten das Ganze in eine friedliche und
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