Die Schnelligkeit der Schnecke
Pflichten als Kellner und Maître tadellos nachkamen, waren Randfiguren in alledem und agierten in unterschiedlichem Stil und Tempo: Massimo goss und Aldo schenkte ein, Massimo nickte, und Aldo hieß gut, Aldo empfahl, und Massimo tischte auf. Am Anfang wechselten sie nicht einmal ein Wort, verständlicherweise: Man musste den enternden Wissenschaftlern die Stirn bieten. Später, wenn der größte Teil der Nahrungsmittel geplündert war, beruhigte sich die Lage, und es ergab sich die Möglichkeit, das ein oder andere Wort miteinander zu wechseln.
»Ich hätte nicht gedacht, dass das so viele Leute sein würden.«
»Unterm Strich sind es auch gar nicht so viele. Vielleicht zweihundert, ungefähr. Ich habe schon Kongresse mit mehr als tausend Personen erlebt.«
»Tausend Personen? Ich dachte eher an die Fotos von historischen Kongressen, die man zu den Jahrestagen in den Zeitungen sieht, nur damit wir uns richtig verstehen. Die Solvay-Konferenz oder so was in der Art. Zwanzig, dreißig Leute höchstens.«
Aldo lächelte und servierte zwei Japanern Kaffee, die sich ihrerseits lächelnd dafür bei ihm bedankten, dann fuhr er fort: »Also, ich verstehe ja nichts davon, aber wozu soll ein Kongress mit tausend Teilnehmern gut sein? Wie willst du da noch diskutieren?«
»Hier geht’s ja nicht um den Wiener Kongress, Aldo. Abgesehen davon, dass ich bei den paar Kongressen, auf denen ich war, nur sehr wenige ernsthafte Diskussionen erlebt habe.«
»Sie haben recht. Auf Kongressen wird meistens wenig diskutiert. Kann ich einen Kaffee bekommen?«
Der da gesprochen hatte, war ein eher kleiner Typ mit einem gelben T-Shirt und halb langen Surferhosen. Er hatte Italienisch gesprochen, aber Akzent und Aussehen ließen darauf schließen, dass er aus dem Norden kam. Das Schildchen, das unten an seinem T-Shirt befestigt war, identifizierte ihn in der Tat als A.C.J. Snijders, Rijksuniversiteit Groningen, The Netherlands. Massimo, dem der Typ sofort sympathisch war, goss ihm die gewünschte Menge in eine Plastiktasse ein und sagte dazu: »Wenn man das Kaffee nennen kann ...«
»Danke. Mir reicht’s schon, wenn es Koffein enthält. Ich muss wieder wach werden.«
»Langweilig da drin?«
»Ein bisschen. Aber es ist auch nicht mein Gebiet. Ich bin Theoretiker, und heute Morgen sprechen die Experimentellen. Der erste Redner heute, der den Kongress eröffnet hat, der war allerdings Theoretiker. Aber wirklich grauenhaft.«
Genüsslich trank er einen Schluck Kaffee und gab einen Laut von sich, der zu besagen schien: »Gar nicht so schlecht«.
»Kiminobu Asahara. Ein Japaner«, sagte er, als erkläre das alles.
»Und der wäre?«, mischte Aldo sich ein, nur um auch ein bisschen was zu sagen.
»Der da drüben, sehr alt, in der Gruppe da. Der Große.«
Das Grüppchen, auf das Snijders zeigte, bestand ausschließlich aus Japanern, die so alt waren, dass sie auch Pearl Harbour bombardiert haben könnten, insofern war es ein Glück, dass Snijders Asahara als groß spezifizierte. Tatsächlich überragte einer der fernöstlichen Senioren alle anderen in der Gruppe um einen Kopf. Der Fragliche hielt ein Glas in der Hand und schien in Katalepsie verfallen zu sein. Während alle mit ihm sprachen, fielen ihm langsam die Augen zu, und sein Oberkörper neigte sich leicht nach vorne. Die Bewegung ließ die Flüssigkeit im Glas des alten Herrn überschwappen, der daraufhin (vielleicht) wegen des Temperaturreizes auf der Haut für etwa zwanzig Sekunden erwachte, um dann wieder nach und nach dem Vergessen entgegenzusinken.
»Was macht der denn da, schläft er?«, fragte Aldo wieder.
»Mehr oder weniger. Er schläft sehr leicht ein. Auch während er spricht. Und während er spricht, wird seine Stimme immer undeutlicher. Während des ganzen Vortrags hat er bestimmt hundertmal das Bewusstsein verloren. Es war eine Tortur. Zehn Sekunden Schweigen, dann endlich ein Wort. Warum die so jemanden als Redner einladen, jemanden, der so alt ist, weiß ich wirklich nicht.«
»Nun, er wird ein wichtiger Mann sein. Und wahrscheinlich auch hoch angesehen«, sagte Aldo mit leichter Schärfe in der Stimme, denn ihm erschien das Altsein nicht so tragisch.
»Aber natürlich ist er wichtig. Er hat viele gute Sachen gemacht, wissenschaftlich betrachtet. Man darf ihn nur keinen Vortrag halten lassen. Die Leute schlafen doch ein. Er sollte anwesend sein, und damit ist gut.«
Snijders trank den Kaffee in zwei Schlucken aus und schaute dann mit trauriger Miene zum
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