Die schöne Ballerina (German Edition)
Festung. Nur die vielen Fenster milderten diesen Eindruck ein bisschen, und zu Lindsays großem Entzücken blitzten sie alle im Sonnenlicht. Rauch stieg aus den vielen Schornsteinen auf. Zum ersten Mal seit mehr als einem Dutzend Jahren wirkte das Haus lebendig.
Die Einfahrt war steil und lang und wand sich in vielen Kurven von der Hauptstraße bis zur Vorderfront des Hauses. Zu dieser Jahreszeit blühten nur noch wenige Herbstblumen im Garten, doch der weite Rasen war geschnitten und wirkte gepflegt.
»Ist es nicht herrlich hier?«, rief Lindsay begeistert. »Mir hat immer besonders gefallen, dass das Haus dem Meer den Rücken zukehrt, als wäre es von dessen Gewalt ganz unbeeindruckt. Es scheint zu sagen: Wenn du meinst, du könntest mir auch nur das Geringste anhaben, so hast du dich gewaltig geirrt!«
Seth hatte den Wagen am Ende der Zufahrt angehalten. Jetzt wandte er sich ihr zu. »Das ist allerdings eine sehr fantasievolle Deutung, Lindsay.«
»Ich bin auch eine sehr fantasievolle Person.«
»Ja. Das habe ich allerdings schon bemerkt.«
Er lehnte sich über sie, um von innen die Tür an ihrer Seite zu öffnen. Dabei kam sein Mund dem ihren gefährlich nahe. Die kleinste Bewegung, und ihre Lippen hätten einander berührt.
»Seltsam, bei dir finde ich das sehr anziehend. Sonst habe ich eigentlich immer mehr für realistische Frauen übrig gehabt.«
»Tatsächlich?«
Seine Nähe hatte eine eigenartige Wirkung auf Lindsay. Es war, als schlängen sich Hunderte unsichtbarer Fäden um sie herum und machten sie absolut wehrlos. »Ich bin leider ziemlich unpraktisch. Ich träume lieber.«
»So? Was träumst du denn?«
»Ziemlichen Unsinn, fürchte ich.«
Sie stieß mit dem Arm schnell die Tür weiter auf und stieg aus. Während sie auf ihn wartete, atmete sie tief die frische Luft ein, um wieder zur Wirklichkeit zurückzufinden.
»Weißt du«, erzählte sie, als Seth an ihre Seite getreten war, »das letzte Mal war ich um Mitternacht hier. Ich war sechzehn.« Bei der Erinnerung lächelte sie vor sich hin, während sie mit Seth auf das Haus zuschritt. »Der arme Andy – ich habe ihn einfach hinter mir hergezogen. Ob er wollte oder nicht, er musste mit mir durch das Seitenfenster einsteigen.«
»Andy.« Seth blieb vor dem Eingang stehen. »Das ist doch dieser Muskelprotz, den du vor deinem Studio geküsst hast.«
Diese Beschreibung Andys passte Lindsay ganz und gar nicht. Sie kniff den Mund zusammen, antwortete nicht.
»Eine Jugendliebe?«, fragte Seth betont obenhin und klingelte mit den Schlüsseln in seiner Hand.
»Er ist ein Freund. Ein guter Freund!«
»Ihr scheint euch sehr zu mögen.«
»Stimmt haargenau. Das ist wohl normalerweise bei Freunden so.«
»Welch scharfsinnige Antwort.« Seth schloss die schwere Haustür auf und forderte sie mit einer Handbewegung auf, einzutreten. »Dieses Mal brauchst du nicht durchs Fenster einzusteigen.«
Der erste Eindruck war genauso überwältigend, wie Lindsay ihn in Erinnerung gehabt hatte. Raue Holzbalken stützten die sechs Meter hohe Decke der Eingangshalle. Links schwang sich eine weite Treppe nach oben, teilte sich und mündete in die Galerie, die im ersten Stock rings um die Halle herumführte. Das Geländer glänzte wie ein Spiegel, und die Treppenstufen waren nicht mit Teppich belegt.
Seidig glänzende Tapete in einem sahnigen Cremeton bedeckte die ehemals staubigen Wände. Auf dem Fußboden lag ein großer Perserteppich, und in den Prismen eines gewaltigen Kronleuchters brachen sich die durch das Fenster einfallenden Sonnenstrahlen.
Ohne ein Wort zu sagen, schritt Lindsay durch die Halle zum ersten Zimmer. Der Salon war vollständig restauriert worden. Ein Gemälde in kühn flammenden Farben hob sich von den gedämpften Tönen der anderen ab. Im Marmorkamin knisterte ein Feuer.
Vor einem kleinen Tisch aus dem achtzehnten Jahrhundert blieb sie stehen und ließ vorsichtig ihre Hand darüber gleiten. »Es ist bezaubernd.« Sie betrachtete ein mit fein gestreiftem Brokat bezogenes Sofa. »Du hast mit sicherem Geschmack ausgewählt, was in dieses Haus passt. So eine kleine Meißener Schäferin habe ich in meiner Fantasie schon immer auf dem Kaminsims stehen sehen. Und da steht sie nun wirklich.« Sie trat näher, um die kleine Kostbarkeit zu bewundern. »Und französische Teppiche auf dem Boden …«
Lindsay schaute Seth voll ins Gesicht. Sie strahlte vor Entzücken. Ihre eigene zarte, zeitlose Schönheit schien in diesen Raum mit seinen
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