Die Schöne des Herrn (German Edition)
anbieten, mit dem er dann fruchtbare Gespräche führen würde. Und später, wenn man erst einmal intim war, ein geschickter Schachzug, um die Beförderung in den Grad A zu erwirken.
»Und den zweiten Ehrenvorsitz für diesen Solal, den der Teufel holen soll!«, dachte er grinsend, als er die Tür zu seinem Büro aufstieß.
Kaum eingetreten, fiel sein erster Blick wie immer auf den Korb mit der eingegangenen Post. Himmelherrgott, vier neue Akten! Sechzehn im ganzen mit den zwölf von gestern! Und alle zur Erledigung! Nicht eine nur zur Information! Ein schöner Empfang für jemanden, der aus dem Krankenurlaub zurückkommt. Sicher, das Attest war eine Gefälligkeit gewesen, aber schließlich wusste Vauvau nichts davon und glaubte, er sei wirklich krank gewesen! Was für ein Mangel an Menschlichkeit! Dieser Mistkerl Vauvau! (Sein Chef, Jonkheer Vincent van Vries, der Leiter der Mandatsabteilung, unterschrieb seine Mitteilungen mit den Initialen. Daher nannten ihn seine Untergebenen unter sich Vauvau.)
»Schwein!«, schimpfte er auf seinen Chef.
Nachdem er seine Wildlederhandschuhe und seinen kastanienbraunen, auf Taille gearbeiteten Mantel ausgezogen hatte, setzte er sich und nahm sich sogleich die vier Neueingänge nacheinander vor. So sehr ihn auch die spätere Arbeit an einer Akte schmerzte, den ersten Kontakt empfand er immer als angenehm. Er liebte es, auf den Anmerkungen und Notizen am linken Rand, den kurzen Mitteilungen von Kollege zu Kollege die Reisen und Stationen zurückzuverfolgen, hinter den höflichen Formulierungen Ironisches, Gehässiges und Feindseliges zu entdecken oder gar, ein besonders raffiniertes Vergnügen, zu erraten und zu genießen, was er Gehässigkeiten oder geschickte Schachzüge nannte. Kurz, jede neu eingegangene und sogleich begierig durchgeblätterte Akte brachte ihm ein wenig Luft von draußen, war ein pikantes Ereignis, eine Zerstreuung, eine Abwechslung, war in gewisser Weise der willkommene Besuch durchreisender Touristen bei einem trübseligen Einsiedler auf seiner verlassenen Insel.
Nach der Lektüre der vierten Akte gestattete er sich das Vergnügen, in der Aktennotiz hinter einen grammatikalischen Fehler eines Beamten der Klasse A ein anonymes und rächendes Ausrufungszeichen zu setzen. Er schloss den Aktendeckel und seufzte. Vorbei mit dem Vergnügen.
»An die Arbeit!«, verkündete er, nachdem er seine Ausgehjacke, wie es sich gehört, gegen eine alte mit abgewetzten Ärmeln ausgetauscht hatte.
Mit den Schneidezähnen kaute er genüsslich ein Stück Zucker, fasste seine Brille zwischen den Gläsern und nahm sie mit einer jähen Bewegung ab, um die Bügel nicht zu verbiegen, putzte sie mit dem Wildledertuch, das er in einer Tabaksdose aus Schildpatt aufbewahrte, setzte sie auf, nahm eine Akte, ohne sich den Titel anzusehen, und öffnete sie. Pech, es war die syrische (Dschebel Drusen), eine höchst unsympathische Akte. Nicht daran zu denken. Später noch mal vornehmen. Er klappte den Deckel zu, erhob sich und ging auf einen Plausch zu Kanakis, mit dem er einige vorsichtige Bosheiten über Pei, den kürzlich in den Grad A versetzten Chinesen, austauschte.
Als er nach ein paar Minuten wieder in seinem Büro war, öffnete er erneut die syrische Akte (Dschebel Drusen), rieb sich die Hände und atmete tief ein. An die Arbeit! Er begrüßte seinen feierlichen Entschluss, indem er die Verse von Lamartine deklamierte.
O Arbeit, heiliges Gesetz der Erde,
Dein Wille ist nun offenbar,
Damit die Scholle fruchtbar werde,
Muss Schweiß sie tränken immerdar.
Wie ein Kämpfer vor der Schlacht krempelte er die Ärmel hoch, beugte sich über die syrische Akte (Dschebel Drusen) und schloss sie wieder. Nein, diese Akte sagte ihm absolut nicht zu. Später noch mal ansehen, wenn man in der entsprechenden Stimmung war! Er schob sie in die unterste rechte Schublade, die er das Fegefeuer oder auch die Leprastation nannte und in die er die widerwärtigen Akten steckte, mit denen er sich nur an besonders mutigen Tagen beschäftigte.
»Der nächste Herr bitte! Auf gut Glück! Keine Bevorzugungen!«
Die zweite Akte, nach der er eben zufällig gegriffen hatte, war die N/600/300/42/4, Korrespondenz mit der Jüdischen Frauenvereinigung von Palästina, die er schon gestern durchgeblättert hatte. Die mussten sich auch ständig über die Mandatsmacht beklagen! Die hatten wirklich Nerven! Es gab doch schließlich einen Unterschied zwischen einer Vereinigung von Judenweibern und der Regierung
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