Die Schöne des Herrn (German Edition)
zweihundert Seiten mit einfachem Zeilenabstand lesen können. Er liebte es, viel Zeit vor sich zu haben, vier Stunden mindestens, um sich wirklich ins Zeug legen zu können und von vornherein zu wissen, dass man das Begonnene auch beenden kann, kurz, um wirklich gute Arbeit leisten zu können. Und außerdem muss man diesen Mist in einem Zug durchlesen, um einen Gesamtüberblick zu bekommen. Und selbst wenn »sehr eilig« unterstrichen ist, heißt das noch lange nicht, am gleichen Tag. Zweihundert Seiten, verdammt noch mal! Perfides Albion! Also, morgen werden wir den Mist in einem Zug durchlesen!
»Ehrenwort, morgen früh, bestimmt! Ab Punkt neun Uhr, mein Alter, du wirst schon sehen! Ja, wenn Deume sich mal dransetzt, dann kracht es, dass die Fenster wackeln!«
Er klappte das britische Memorandum zu. Aber die Dicke des Ordners deprimierte ihn, er schloss ihn in die Leprastation ein und schnalzte mit der Zunge. Für das Ende dieses Nachmittags brauchte er eine leichte Arbeit, etwas Erfrischendes. Schauen wir mal. Die Empfangsbestätigung Kamerun? Nein, zu wenig, denn er hatte ja noch mehr als eine Stunde. Kamerun sollte man eher als Lückenbüßer in Reserve halten. Ja, aber Kamerun war ebenfalls eilig. Schön, wird später erledigt.
»Ja, spöter erlödigt«, sagte er, um sich zu erheitern, »später, wenn ich in der entsprechenden inneren Verfassung bin.«
Aber dieses britische Memo im Schreibtisch könnte er am Ende noch vergessen! Dabei war es absolut vorrangig. Vorsicht, keine Dummheiten! Er öffnete die Leprastation, nahm das Memorandum heraus, legte es mutig in den Korb mit der Aufschrift »Eilig« und beglückwünschte sich. Das war immerhin der Beweis seines guten Willens, seines festen Entschlusses, sich morgen früh sofort mit diesem Memo zu beschäftigen. Kurz darauf deckte er dieses gut sichtbare Ärgernis jedoch mit seiner
Tribune de Genève
zu.
Beruhigt stopfte er sich seine Pfeife, zündete sie an und nahm einen Zug. Ausgezeichnet diese holländische Mischung, sehr aromatisch, davon musste er auch etwas an Vermeylen schicken. Während er den Pfeifenstiel beklopfte, rechnete er sich auf einem Notizblock die Höhe seines Goldfrankengehalts in belgischen Francs und dann in französischen Francs aus, um den Wert richtig zu genießen. Enorm eigentlich, was er da verdiente! Zehnmal mehr als Herr Mozart!
(Das darauf folgende Kichern bedarf einer Erklärung. Am Abend vor seinem Krankenurlaub hatte er eine Mozartbiografie gelesen und sich besonders für das Kapitel über die kärglichen Einnahmen des Komponisten interessiert, der im Elend gestorben und wie die Armen im Massengrab beerdigt worden war. Nach Erkundigungen bei der Wirtschaftsabteilung über die Kaufkraft verschiedener europäischer Währungen zwischen 1756 und 1791 war er zu dem Schluss gekommen, dass er, Adrien Deume, zehnmal so viel verdiente wie der Komponist von
Die Hochzeit des Figaro
und
Don Giovanni
.)
»Nicht sehr gewitzt, der gute Wolfgang Amadeus!«, kicherte er erneut. »Eine Uhr für neunhundert Schweizer Franken hätte der sich nicht leisten können!«
Jetzt war er in Fahrt und stellte neue Berechnungen an. Ein hoher Beamter der Klasse A verdiente sechzehnmal so viel wie Mozart, ein erster Gesandtschaftssekretär dito, ein Abteilungsleiter zwanzigmal so viel, ein bevollmächtigter Gesandter ebenfalls, oder zumindest fast so viel, und ein Botschafter vierzigmal so viel wie Mozart! Und, Menschenskind, Sir John sogar fünfzigmal so viel wie Mozart, wenn man seine Repräsentationsspesen mit einrechnete! Ja, der Generalsekretär des Völkerbundes verdiente mehr als Beethoven, Haydn, Schubert und Mozart zusammen! Dieser Völkerbund war weiß Gott eine Institution! Das stellte doch etwas dar!
Vor Freude pfiff er eine Melodie des wenig gewitzten Komponisten, von dem er sich gestern Abend mit der ganzen Bande der Gewitzten, B- und A-Beamte, Abteilungsleiter, Gesandte und Botschafter, alle musikliebend, aber eben auch schlau, ehrfürchtig eine Symphonie angehört und danach heftig Beifall geklatscht hatte.
»Kurzum, mein lieber Mozart, du hast dich übers Ohr hauen lassen«, lautete sein Fazit. »So. Und jetzt widmen wir uns etwas unseren gesellschaftlichen Beziehungen.«
Ja, er sollte die liebe Penelope Kanakis anrufen, das gehörte sich so. Schließlich steht es im Anstandsregelbuch, dass man sich am nächsten Tag für ein Abendessen bedanken muss. Und so machte er es. Nachdem er das Gespräch mit der Kanakis beendet hatte, seufzte
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