Die Schöne des Herrn (German Edition)
reichte sie ihm einen kleinen Karton. Munter setzte sie sich zu ihm auf die Sessellehne und bewunderte das kleine Mädchen in Socken und Sandalen, das mit seinen Korkenzieherlocken, seiner großen Schleife im Haar, seinem kurzen Rock und seinen schönen nackten Beinen ganz entzückend aussah.
»Du warst hübsch.«
»Und jetzt?«, fragte sie und näherte ihre Wange.
»Jetzt auch.«
»Aber welche ziehen Sie vor? Sie oder mich?«
»Beide sind charmant.«
O welcher Abstieg, dachte er und gab ihr das Foto zurück. Und worüber sollte er jetzt mit ihr sprechen? Über das Meer und seine Farben, den Himmel und den Mond hatten sie sich schon so oft unterhalten. Alles, was über Proust zu sagen war, war bereits gesagt, auch dass man durchaus spüre, dass Albertine ein junger Mann war. Ihre Liebe war eben nicht reich genug, würden die Anständigen sagen. Er würde sie gern an ihrer Stelle sehen, Tag und Nacht angekettet im Kerker einer großen Liebe. Über Tiere reden? Schon geschehen. Er kannte alle Tiere, die sie liebte, und die Gründe, warum sie sie liebte, auswendig. Der Krieg in Spanien? Zu schmerzlich, er war nicht mehr dabei. Ihr zum zehntausendsten Mal sagen, dass er sie liebte, ohne jede weitere Ausschmückung? Ein in der Gesellschaft lebender Mensch, der mit seiner Frau gerade von den befreundeten, unsympathischen, aber unentbehrlichen Dumardins zurückkehrte, hätte ihr auf lebendige Art etwas Liebenswürdiges sagen können, zum Beispiel, Madame Dumardin ist längst nicht so gut angezogen wie du, Liebling. Gegenüber tanzten die Glücklichen zu den Klängen eines Klaviers und leisteten sich einen Haufen zwergenhafter Ehebrüche.
»In Cannes«, sagte Ariane, »gibt es eine Dame, die Hawaii-Gitarre unterrichtet. Ich glaube, ich werde einmal zu ihr gehen.«
Nach einer weiteren Pause erzählte sie von einem pittoresken Paar, das sie im Bus nach Cannes gesehen hatte, beschrieb das Aussehen der beiden und berichtete, was sie gesagt hatten. Er spielte den Verständnisvollen und zwang sich zu einem Lächeln. Wie gewöhnlich bemühte sich die Unglückliche, geistreich und interessant zu sein. Sie hatte übrigens gut beobachtet. In ihrem Hunger nach anderen sind die Unbeachteten gute Beobachter. Diese beiden Unbekannten aus dem Bus waren die einzige Beute von draußen, die sie ihm zu bieten hatte. Erneutes Schweigen.
Sie plötzlich ohrfeigen, ohne Erklärung, und sich dann in sein Zimmer einschließen? Das wäre eine gute Tat. Dann wäre ihr Abend nicht mehr langweilig, sie hätte eine Beschäftigung und könnte sich fragen, warum und wodurch sie ihm missfallen hatte, könnte weinen und sich sagen, sie hätten einen so schönen Abend miteinander verbringen können, wenn er nicht so böse gewesen wäre. Ihr ein bisschen Drama geben, eine
scenic railway
. Dann käme wieder die Hoffnung, die Erwartung und schließlich die Versöhnung. Nein, ihm fehlte der Mut.
Diesen Mut hatte er neulich Abend gehabt. Eine heftige Ohrfeige, und dann hatte er sich in sein Zimmer eingeschlossen und sich den Schenkel mit einem Messer aufgeritzt, um ausgleichende Gerechtigkeit zu schaffen. O traurige Komik, aus reiner Güte ein sanftes Wesen zu schlagen, das er zärtlich liebte. Aus Güte, ja, um ihr dieses liebenswürdige Lächeln einer wohlerzogenen Frau von den Lippen zu reißen, einer Frau, die nicht wissen wollte, dass sie sich langweilte, die wahrscheinlich glaubte, sie litte an einer grundlosen Traurigkeit. Aus Güte, ja, um ihr Leben zu geben, um sie zu hindern, den gemeinsamen Schiffbruch zu sehen. Aber er hatte es nicht ertragen können, als er sie auf der Straße gesehen hatte, die Hand an der beleidigten Wange, und er war hinausgestürmt, war zu ihr gelaufen, »verzeih mir, mein Liebling, meine Sanfte, meine Gute, verzeih mir, ich war einen Augenblick nicht bei mir.« Sie hatte ihn gläubig angeblickt, wie damals im Ritz. Wie konnte er es da ein zweites Mal tun?
»Ja, ich glaube, ich werde zu dieser Dame gehen. Angeblich genügen zwölf Unterrichtsstunden. Dann kann ich Ihnen am Abend hawaiianische Lieder vorspielen, sie sind so ergreifend.«
Sieh an, sie hatte nicht schwermütig gesagt. Das hebt sie sich wohl für ein anderes Mal auf. Wie konnte er diese Arme ohrfeigen, die sich vornahm, ihn mit der Hawaii-Gitarre zu bezaubern, die sich unbewusst bemühte, das Gesellschaftliche durch hawaiianische Lieder zu ersetzen oder ihm damit Konkurrenz zu machen? Und sollte er sie etwa jeden Abend ohrfeigen? Dieses Tonikum würde auf
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