Die Schöne des Herrn (German Edition)
einem Milieu bietet, hatte er sich immer nur auf sich selbst verlassen können. Ein kolossaler Fehltritt hatte ihn zu Fall gebracht. Jetzt ist er nur noch ein einsamer Mensch. Die anderen, die Verwurzelten, bleiben immer noch durch schützende Fäden mit natürlichen Verbündeten verbunden. Für diese Normalen ist das Leben leicht, so leicht, dass sie gar nicht wissen, was sie ihrem Milieu schulden, und glauben, ihr Erfolg sei ganz allein ihnen zu verdanken. Die Rolle, welche die Eltern und Verwandten und die langjährigen Beziehungen für die Riesenbande jener Glückspilze, Staatsräte, Finanzinspektoren und Diplomaten spielen, die sämtlich schlechte Schüler gewesen waren. Die würde er gern an seiner Stelle sehen, diese von Geburt an protegierten Schwachköpfe, die von der Wiege bis zum Grab von der Gesellschaft getragen werden. Wenn Proust gewollt hätte, wäre er ganz leicht, ganz mühelos durch seinen Vater in den Quai d’Orsay gelangt, denn der Schwachkopf Norpois, ein Freund von Prousts Papa, hätte den Sohnemann bereitwillig bei den anderen Schwachköpfen eingeführt. Nun ja, er weiß sehr gut, dass sie keine Schwachköpfe und keine schlechten Schüler sind. Er sagt Schwachköpfe, er sagt schlechte Schüler, weil er, oh, Schluss damit. Ja, Erfolg ohne das Netz des Gesellschaftlichen. Und diese Dummheit auf der Versammlung des Rats ihres Völkerbundes, das hat ihm das Genick gebrochen. Und am nächsten Tag die noch schrecklichere Dummheit mit dem anonymen Brief, in dem er die Gesetzwidrigkeit seiner Einbürgerung aufgedeckt hat. Seitdem ist er ein einsamer Mensch, und sein Vaterland ist eine Frau. Er nimmt den versiegelten Umschlag aus der Nachttischschublade. Er wiegt ihn in der Hand: schwer, verführerisch. Ihn öffnen? Ja, er hat das Recht auf ein bisschen Glück. Nein, sein Vater war Gamaliel von den Solal, der verehrte Großrabbiner. Er legt den Umschlag zurück.
Ein Lebensziel, schnell. Er klingelt dem Oberkellner, steht auf, vergewissert sich, dass die Tür abgeschlossen ist, und wartet. Als es zweimal klopft, öffnet er nicht und bestellt durch die Tür ein großes Frühstück. Drei Eier mit Schinken, Milchkaffee, Toast, Butter, Hörnchen, englische Orangenmarmelade. Danach legt er sich wieder hin, zwingt sich zu lächeln und vor Wohlbehagen zu seufzen. Siehst du, mein Lieber, ich habe ein gutes und sehr bequemes Bett. Der Albino hatte ihn unterbrochen, war aufgestanden, hatte gesagt, er habe noch andere Leute zu empfangen. Und da hatte er gelächelt, um das Wohlwollen dieser kleinen Null zu gewinnen und noch ein paar zusätzliche Minuten herauszuschlagen, um seine Sache zu vertreten, und er hatte den Schluss seiner am Vorabend vor dem Spiegel eingeübten Rede vorgetragen und ungeschickt seine Argumente vorgebracht, die auf taube Ohren gestoßen waren. Das Leben, zu dem er die Frau zwingt, die er liebt. Seine Liebe zu Frankreich, und sogar die Gründe für diese Liebe. Aber der Kerl war zu französisch, um diese Leidenschaft und dieses Bedürfnis zu verstehen. Seine Rede hatte ihm also nichts genützt, und der Kerl hatte schweigend die Tür geöffnet. Und da hatte er ihm gesagt, dass er verloren sei. »Tut mir leid«, hatte der Kerl geantwortet.
Zweimaliges Klopfen an der Tür. Angst, den Oberkellner zu sehen, einen Aktiven von draußen, einen Boten des Normalen, einen Glückspilz, der seinen Platz in der Bruderschaft der Menschheit hat. »Lassen Sie das Tablett vor der Tür, ich hole es mir.« Er wartet, bis die Schritte sich entfernt haben, öffnet die Tür vorsichtig einen Spalt, wirft einen Blick nach rechts und links. Keine Gaffer. Er zieht das Tablett zu sich, dreht rasch den Schlüssel zweimal um, zieht ihn aus der Tür, steckt ihn unter sein Kopfkissen und legt sich hin.
In seinem Bett sitzend, das freundliche Tablett vor sich, lächelt er. Riechen gut, diese Eier mit Schinken. Drei kleine Freunde. Siehst du, du hast auch dein Frühstück, und es ist reichhaltiger als das der Glückspilze. Ja, aber für die Glückspilze ist diese morgendliche Mahlzeit ein Vorspiel für das Leben draußen, liefert Kalorien für die Tätigkeit unter seinesgleichen. Während es für ihn ein Lebenszweck ist, ein kleines Absolutum, zehn Minuten einsamen und pappigen Glücks. Er schlägt
Le Temps
auf und gewährt der Welt draußen Audienz, während er sich der traurigen Wollust des Essens hingibt. Er weiß, dass er sich in einem Jahr oder etwas später oder etwas früher das Leben nehmen wird, und doch isst
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