Die Schöne des Herrn (German Edition)
charakteristische Nase hinter dem Taschentuch. Die Hotelhalle durchquert er noch schneller, den Blick gesenkt, um zu vermeiden, Bekannten von früher zu begegnen.
Als er in der Rue Marbeuf eine Kreideaufschrift bemerkt, geht er mit abgewandtem Gesicht vorbei. Gar nicht wissen wollen. Doch gleich darauf fühlt er sich unwiderstehlich angezogen, dreht sich um und schaut. Dass man in diesen Städten der Nächstenliebe den Juden den Tod wünschen kann. Vielleicht ist es ein braver Junge, der seinen Tod wollte, ein guter Sohn, der seiner Mutter Blumen mitbringt. Um keine Wände mehr sehen zu müssen, betritt er eine Brasserie. In der Hoffnung, ein paar Gesprächsfetzen zu erhaschen, setzt er sich in die Nähe eines alten Ehepaars mit freundlichen Gesichtern und bestellt einen doppelten Whisky. Ja, fröhlich sein. Er schlägt die
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auf, die auf dem Tisch liegt, und zuckt zusammen. Nein, nicht Jude, nur Juni. Der nette Alte hat seiner Frau etwas ins Ohr geflüstert, und sie setzt jene gleichgültige Miene auf, die kleine Komplotte verrät, und lässt den Blick durch das Lokal schweifen, bevor sie ihn auf dem gut angezogenen Bärtigen verweilen lässt. Dann tauscht sie mit ihrem Mann einen komplizenhaften Blick aus, einen kennerhaften, genießerischen, wissenden, geistreichen und von schlauer Scharfsichtigkeit sprühenden Blick. Ja, ja, ganz bestimmt, sagt sie und zeigt ihm ihre gezackten, mit grünem Moos bedeckten Zähne. Er fühlt sich erkannt, steht auf, lässt einen Geldschein auf dem Tisch zurück, verzieht sich und vergisst seinen Whisky.
Er irrt durch die Straßen, lebenspendende Flüsse der Einsamen, isst geröstete Erdnüsse, die er bei einem Glaubensgenossen, einem alten Juden aus Saloniki mit gewelltem weißem Haar und sanften Odaliskenaugen, gekauft hat, bleibt von Zeit zu Zeit vor dem Schaufenster eines Konfektionsgeschäftes stehen, greift in die Tüte mit den Erdnüssen, deren braune Schuppen auf die Aufschläge seines Jacketts fallen, betrachtet die schön gefärbten Wachspuppen, alle so untadelig und voller Lebensfreude und stets vergnügt, geht plötzlich weiter, spricht halblaut zu sich selbst, lächelt ab und zu, betritt diverse Geschäfte und verlässt sie mit allerlei Gegenständen, die ihm in seinem Zimmer Gesellschaft leisten werden, zukünftige Bekannte, die man anschauen und lieben kann.
In einem Spielzeuggeschäft kauft er eine kleine Gliederpuppe, ein Skifahrer, und Kugeln aus Karneol. Eine falsche Pappnase erregt seine Aufmerksamkeit. Er kauft sie ebenfalls und sagt zur Verkäuferin, sein kleiner Junge würde sich darüber freuen. Kaum draußen, holt er den Skifahrer aus der Papiertüte, hält ihn am Ärmchen und lässt ihn schwingen. Man geht gemeinsam spazieren. Eine Buchhandlung. Er bleibt stehen, tritt ein, kauft
Das Geheimnis des Papageien
, einen Kriminalroman, der dem kleinen Hirn einer dicken alten Engländerin entsprungen ist. Ein Blumengeschäft. Er bleibt stehen, tritt ein, bestellt drei Dutzend Rosen, zu liefern ins George V, traut sich jedoch nicht, seinen Namen zu nennen. Appartement 330, eilig, für einen Freund. »Ich liebe dich, weißt du«, murmelt er, als er wieder auf der Straße ist. Eigentlich hat dieser Blumenhändler ihn sehr freundlich behandelt. Er klatscht einmal in die Hände. »Auf, amüsieren wir uns«, murmelt er.
Ganz allein in der großen Stadt, geht er spazieren, schleppt sein Herz durch die langen Straßen, schleppt sich dahin, betrachtet zwei Offiziere, die fröhlich an ihm vorbeigehen und laut reden, das Recht haben, laut zu reden. Um sich zu trösten und Gesellschaft zu haben, kauft er eine Tafel Milchschokolade. Nachdem er die Tafel gegessen hat, geht er weiter, erneut allein. Mit vagem Blick, den Mund woanders, geht er schwach und schlurfend und singt leise, aber voller Ausdruck ein fröhliches Lied, um die Leere auszufüllen. Er zieht
Das Geheimnis des Papageien
aus der Tasche und liest im Gehen, um nicht denken zu müssen.
Eine Menschenmenge vor einer Kirche. Er bleibt stehen, klemmt sich das Buch unter den Arm, schaut zu. Ein roter Teppich auf den Stufen. Wichtigtuerische Untergebene geben Anordnungen für die Aufstellung der grünen Pflanzen. Jetzt erscheint der dicke Schweizer der Kirche mit seiner Hellebarde. Eine große Hochzeit wird gefeiert werden. Luxusautos. Eine himmelblaue Dame reicht einem weißbehandschuhten General die Hand. Gedemütigt geht er weiter, singt vor sich hin, um die bösen Geister auszutreiben, und schwingt
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