Die schöne Diva von Saint-Jacques
der Sache überhaupt nichts zu suchen, mein armer Freund. Nur die Karten werden hier ein bißchen gemischt. Leguennec kann uns überhaupt nichts anhaben. Nur bringt uns die Zeit, in der er unsere Herkunft, unseren Entwicklungsgang und unsere jeweiligen Großtaten ein bißchen unter die Lupe nimmt, einen Tag mehr, an dem zwei Unterpfeifen für nichts und wieder nichts beschäftigt sind. Das wäre dem Feind schon mal abgetrotzt!«
»Ich finde das schwachsinnig.«
»Aber nein. Ich bin sicher, daß Mathias das sehr komisch finden wird. Na, Mathias?«
Mathias lächelte schwach.
»Mir ist das vollständig egal«, sagte er.
»Von den Bullen genervt zu werden und im Verdacht zu stehen, Sophia vergewaltigt zu haben, ist dir vollständig egal?« fragte Marc.
»Na und? Ich weiß, daß ich nie eine Frau vergewaltigen werde. Da ich das weiß, ist mir egal, was die anderen darüber denken.«
Marc seufzte.
»Der Jäger und Sammler ist ein Weiser«, kommentierte Lucien. »Und außerdem fängt er an, kochen zu können, seitdem er im Tonneau arbeitet. Da ich weder ein Verfechter der reinen Lehre noch ein Weiser bin, schlage ich vor, daß wir essen.«
»Essen! Du redest über nichts anderes als über Essen und den Ersten Weltkrieg«, sagte Marc.
»Essen wir«, sagte Vandoosler.
Er ging hinter Marc vorbei und drückte ihm rasch die Schulter. Seine Art, ihm die Schulter zu drücken, wenn sie sich gestritten hatten, hatte sich seit Marcs Kindheit nicht geändert. Eine Geste, die soviel besagen sollte wie ›mach dir keine Sorgen, junger Vandoosler, ich tue nichts, was dir schaden könnte, reg dich nicht auf, du regst dich viel zu sehr auf, mach dir keine Sorgen.‹ Marc spürte, wie seine Wut nachließ. Alexandra war noch immer nicht unter Anklage gestellt, dafür sorgte der Alte seit vier Tagen. Marc warf ihm einen Blick zu. Armand Vandoosler setzte sich an den Tisch, als ob nichts wäre. Mal Scheißkerl, mal klasse Kerl. Schwierig, sich da zurechtzufinden. Aber es war sein Onkel, und Marc schrie ihn zwar an, vertraute ihm aber. In bestimmten Dingen.
24
Trotz allem wurde Marc von Panik ergriffen, als Vandoosler am nächsten Morgen um acht mit Leguennec im Gefolge in sein Zimmer trat.
»Es ist Zeit«, sagte Vandoosler. »Ich muß mit Leguennec los. Du machst einfach das gleiche wie gestern, das ist dann o. k.«
Vandoosler verschwand. Wie betäubt blieb Marc im Bett liegen. Er hatte den Eindruck, mit knapper Not einer Verhaftung entgangen zu sein. Nie im Leben hatte er dem Paten aufgetragen, ihn zu wecken. Vandoosler der Ältere wurde wohl völlig verrückt. Nein, das war es nicht. Da der Pate gezwungen war, Leguennec zu begleiten, hatte er ihm zu verstehen geben wollen, daß Marc sich während seiner Abwesenheit wieder an die Überwachung machen sollte. Er hielt Leguennec offenbar nicht über all seine Strategien auf dem laufenden. Marc stand auf, duschte und ging ins Refektorium hinunter. Mathias, der bereits seit wer weiß wie vielen Stunden auf war, räumte Holzscheite in die Holzkiste. Im Morgengrauen aufzustehen, obwohl niemand ihn dazu zwang, schaffte wirklich nur er. Benommen machte sich Marc einen starken Kaffee.
»Weißt du, warum Leguennec gekommen ist?« fragte Marc.
»Weil wir kein Telefon haben«, erwiderte Mathias. »Das zwingt ihn, jedesmal herzukommen, wenn er mit deinem Onkel reden will.«
»Das habe ich verstanden. Aber warum so früh? Hat er dir was gesagt?«
»Nicht das Geringste«, sagte Mathias. »Er sah aus wie ein Bretone, den eine Sturmwarnung in Sorge versetzt, aber ich vermute, er ist häufig so, auch ohne Sturm. Er hat mir kurz zugenickt und hat sich ins Treppenhaus geschlichen. Ich habe ihn was meckern hören von wegen Baracke ohne Telefon und mit vier Stockwerken. Das ist aber alles.«
»Dann müssen wir abwarten«, sagte Marc. »Und ich muß wieder auf meinen Posten am Fenster. Nicht sehr komisch. Ich weiß nicht, was der Alte sich erhofft. Frauen, Männer, Schirme, der Briefträger, der dicke Georges Gosselin, das ist alles, was ich vorbeigehen sehe.«
»Und Alexandra«, bemerkte Mathias.
»Wie findest du sie?« fragte Marc zögernd.
»Entzückend«, antwortete Mathias.
Befriedigt und eifersüchtig zugleich stellte Marc seine Tasse auf ein Tablett, nahm zwei von den Brotscheiben, die Mathias abgeschnitten hatte, trug alles bis zum zweiten Stock und zog einen hohen Küchenhocker bis ans Fenster. Zumindest würde er so nicht den ganzen Tag stehen müssen.
An diesem Morgen
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