Die schöne Diva von Saint-Jacques
erwartest du?«
»Keine Ahnung. Deshalb muß man wachsam bleiben. Selbst gegenüber dem lächerlichsten Vorfall. Verstanden?«
»Einverstanden«, erwiderte Marc. »Aber ich verstehe nicht, wo das hinführen soll. Bring wenigstens Brot und Eier mit. Lucien ist bis sechs bei seinem Unterricht. Ich bin dran mit Einkaufen.«
»Haben wir was zu Mittag?«
»Es ist noch etwas Braten da, der ist aber nicht mehr sehr schön. Sollen wir nicht vielleicht besser ins Tonneau gehen?«
»Montags ist zu. Und außerdem habe ich gesagt, daß wir das Haus nicht verlassen, erinnerst du dich?«
»Nicht mal zum Essen?«
»Nicht mal zum Essen. Wir machen den Braten alle. Dann gehst du an dein Fenster und wartest. Nimm kein Buch mit. Bleib an deinem Fenster und beobachte.«
»Ich werde mich tödlich langweilen.«
»Aber nein, draußen passieren eine Menge Sachen.«
Ab ein Uhr postierte sich Marc verdrossen an seinem Fenster im zweiten Stock. Es regnete. Normalerweise gingen ziemlich wenig Menschen durch die kleine Straße, und wenn es regnete, noch weniger. Sehr schwer, unter den Schirmen irgendwas zu erkennen. Wie Marc sich gedacht hatte, passierte haarscharf gar nichts. Zwei Damen gingen in die eine Richtung, ein Mann in die andere. Dann kam gegen halb drei der Bruder von Juliette vorbei, der einen kleinen Erkundungsgang machte und unter einem großen schwarzen Schirm kaum zu sehen war. Den dicken Georges sah man ja wirklich nicht häufig. Er arbeitete unregelmäßig, immer dann, wenn der Verlag ihn in die Provinz schickte, um seine Lieferungen zu erledigen. Manchmal war er für eine Woche weg und blieb dann mehrere Tage zu Hause. Dann begegnete man ihm, wenn er spazierenging oder hier und da ein Bier trank. Ein Typ mit derselben weißen Haut wie seine Schwester, nett, aber ziemlich unzugänglich. Er grüßte kurz und liebenswürdig, ohne das Gespräch zu suchen. Im Tonneau sah man ihn nie. Marc hatte es nicht gewagt, Juliette über ihn auszufragen, aber auf diesen dicken Bruder, der mit fast Vierzig noch immer bei ihr wohnte, schien sie nicht gerade stolz zu sein. Sie redete fast nie über ihn. Es war ein bißchen, als ob sie ihn verstecken oder schützen würde. Es war nichts über eine Frau in seiner Nähe bekannt, so daß Lucien, natürlich sehr differenziert, die Hypothese aufgestellt hatte, er sei Juliettes Liebhaber. Absurd. Ihre äußerliche Ähnlichkeit war augenfällig, der eine in häßlich, die andere in hübsch. Enttäuscht, aber gezwungen, sich den Tatsachen zu beugen, war Lucien umgeschwenkt und hatte nun behauptet, er habe gesehen, wie Georges in ein gewisses Fachgeschäft in der Rue Saint-Denis geschlichen sei. Marc zuckte mit den Schultern. Alles war Lucien ein Anlaß, sich Gedanken zu machen, von den schlüpfrigsten bis zu den allerfeinsinnigsten.
Gegen drei Uhr nachmittags sah er, wie Juliette nach Hause rannte, sie schützte sich mit einem Karton vor dem Regen, dicht dahinter ging Mathias mit bloßem Kopf und langsamen Schritten Richtung Baracke. Montags half er Juliette häufig bei dem Wocheneinkauf für das Restaurant. Das Wasser lief überall an ihm herab, aber einen Typen wie Mathias störte das natürlich nicht. Dann noch eine Dame. Dann eine Viertelstunde später ein Typ. Die Leute hasteten durchnäßt durch den Regen. Mathias klopfte an seine Tür, um sich einen Radiergummi zu leihen. Er hatte sich nicht einmal die Haare getrocknet.
»Was machst du da an deinem Fenster?« fragte er.
»Ich habe einen Auftrag«, antwortete Mathias müde. »Der Kommissar hat mich beauftragt, die Ereignisse zu überwachen. Also überwache ich sie.«
»Ach so? Welche Ereignisse?«
»Das weiß keiner. Ich brauch dir nicht zu sagen, daß keinerlei Ereignis stattfindet. Sie haben zwei Haare von Sophia in dem Auto gefunden, daß Lex sich ausgeliehen hat.«
»Das ist ja beschissen.«
»Das kannst du laut sagen. Aber der Pate findet das lustig. Ach, da ist der Briefträger.«
»Soll ich dich ablösen?«
»Vielen Dank. Ich gewöhne mich langsam dran. Ich bin der einzige, der hier nichts tut. Also besser, einen Auftrag zu haben, so blöd er auch ist.«
Mathias steckte den Radiergummi ein, und Marc blieb auf seinem Posten. Damen, Schirme. Kinder, die aus der Schule kamen. Alexandra ging mit dem kleinen Cyrille vorbei. Ohne einen Blick in Richtung Baracke. Warum hätte sie auch gucken sollen?
Kurz vor sechs stellte Pierre Relivaux seinen Wagen vor dem Haus ab. Seine Karre mußte auch untersucht worden sein. Er schlug
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