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Die schöne Diva von Saint-Jacques

Die schöne Diva von Saint-Jacques

Titel: Die schöne Diva von Saint-Jacques Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fred Vargas
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regnete es nicht. Ein sehr korrektes Junilicht. Mit etwas Glück würde er rechtzeitig sehen, wie Lex das Haus verließ, um ihren Sohn zur Schule zu bringen. Ja, gerade rechtzeitig. Sie kam mit leicht schläfrigen Schritten vorbei und hatte Cyrille an der Hand, der ihr einen Haufen Geschichten zu erzählen schien. Genau wie gestern hob sie nicht einmal ihren Kopf, um zur Baracke hinüberzusehen. Und genau wie gestern fragte sich Marc, warum sie es hätte tun sollen. Übrigens war es auch besser so. Wenn sie ihn bemerkt hätte, wie er unbeweglich auf einem Hocker Wache schob und die Straße beobachtete, während er Butterbrote aß, wäre das sicher nicht zu seinem Vorteil gewesen. Marc konnte nirgends das Auto von Pierre Relivaux entdecken. Er mußte früh am Morgen weggefahren sein. Ehrbarer Arbeiter oder Mörder? Der Pate hatte gesagt, der Mörder sei ein brutaler Totschläger. Ein brutaler Totschläger ist dann doch etwas anderes, weniger erbärmlich und erheblich gefährlicher. So jemand verursacht mehr Angst. Marc war nicht überzeugt, daß Relivaux das Zeug zum brutalen Totschläger hatte, und hatte daher keine Angst vor ihm. Mathias dagegen, ja, der wäre perfekt gewesen. Groß, breit, solide, unerschütterlich, ein Mann der Wälder, mit verborgenen und bisweilen seltsamen Ideen, ein ausgezeichneter Kenner der Oper, was niemand vermutet hätte. Ja, Mathias wäre perfekt gewesen.
    Während er seinen Gedanken nachhing, war es halb zehn geworden. Mathias kam herein, um ihm seinen Radiergummi wiederzugeben. Marc sagte ihm, daß er ihn sich sehr gut als brutalen Totschläger vorstellen könnte, und Mathias zuckte mit den Schultern.
    »Wie läuft’s mit deiner Überwachung?«
    »Null Ergebnis«, erwiderte Marc. »Der Alte ist bescheuert, und ich füge mich seinem Schwachsinn. Das muß in der Familie liegen.«
    »Sollte das hier richtig lange dauern, dann mach ich dir was zum Mittagessen, bevor ich ins Tonneau gehe«, sagte Mathias.
    Mathias schloß leise die Tür, und Marc hörte, wie er sich in der Etage darunter an seinen Schreibtisch setzte. Er änderte seine Haltung auf dem Hocker. Künftig müßte er an ein Kissen denken. Für einen Augenblick sah er sich auf Jahre hinaus an dieses Fenster verbannt, in einem Spezialsessel sitzend, der für das unnütze Warten gepolstert war, und mit Mathias als einzigem Kontakt zur Außenwelt, der mit Tabletts zu ihm kam. Gegen zehn kam die Putzfrau von Relivaux und schloß das Haus auf. Marc nahm seine Gedankengänge wieder auf. Cyrille hatte einen matten Teint, lockiges Haar und war rundlich. Vielleicht war der Vater dick und häßlich, warum nicht? Scheiße. Warum mußte er nur immer an diesen Typen denken? Er schüttelte den Kopf und sah wieder in Richtung Westfront. Die junge Buche entwickelte sich prächtig. Der Baum war glücklich, daß Juni war. Auch den Baum konnte Marc nicht vergessen, und in dem Fall schien er wirklich der einzige zu sein. Obwohl er gesehen hatte, wie Mathias neulich vor dem Gartentor von Relivaux stehengeblieben war und zur Seite geblickt hatte. Marc hatte den Eindruck gehabt, daß Mathias den Baum beobachtete oder besser gesagt den Fuß des Baumes. Warum erklärte Mathias so selten, was er machte? Mathias wußte eine Unmenge unglaublicher Dinge über die Karriere von Sophia. Er hatte gewußt, wer sie war, als sie zum ersten Mal zu ihnen gekommen war. Dieser Typ wußte einen Haufen Sachen und sagte sie nie. Marc schwor sich, eines Tages um den Baum herumzustreifen, sobald Vandoosler ihm erlauben würde, seinen Hocker zu verlassen. So wie Sophia es getan hatte.
    Er sah eine Dame vorübergehen. Er notierte: »10 Uhr 20: Eine geschäftige Dame geht mit ihrem Einkaufskorb vorüber. Was ist in dem Korb?« Er hatte beschlossen, alles aufzuschreiben, was er sehen würde, um sich nicht zu langweilen. Er nahm erneut sein Blatt und fügte hinzu: »Genaugenommen ist es kein Korb, sondern eine Tasche aus Binsengeflecht, eine sogenannte ›Cabas‹. Eine merkwürdige Bezeichnung, die nur noch von alten Leuten und in der Provinz verwendet wird. Etymologie nachschlagen.« Die Idee, der Etymologie des Wortes »Cabas« nachzugeben, munterte ihn wieder etwas auf. Fünf Minuten später griff er erneut zu seinem Blatt. Es war ein sehr bewegter Vormittag. Er notierte: »10 Uhr 25: ein hagerer Typ klingelt bei Relivaux.« Marc richtete sich abrupt auf. Tatsächlich, ein hagerer Typ klingelte bei Relivaux, und es war weder der Briefträger noch der Ableser vom

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