Die schöne Diva von Saint-Jacques
verschoben. Deshalb ist es heute. Ich darf das nicht verpassen, dazu ist es zu wichtig. Einer der beiden Alten ist fünfundneunzig und noch hellwach. Den muß ich treffen. Ich muß mich entscheiden: die Geschichte oder die Langusten.«
»Also die Geschichte«, bemerkte Marc.
»Natürlich«, sagte Lucien. »Ich gehe mich umziehen.«
Er warf einen Blick aufrichtigen Bedauerns auf den Tisch und eilte in den dritten Stock hinauf. Als er kurz darauf wegstürmte, bat er Marc, ihm noch ein paar Langusten für den späteren Abend übrigzulassen.
»Für solche Delikatessen bist du dann sicher zu besoffen«, erwiderte Marc.
Aber Lucien hörte ihn nicht mehr, er rannte in Richtung 14-18 davon.
26
Mathias wurde von wiederholten Rufen geweckt. Er hatte den leichten Schlaf des Jägers. Er stand auf, ging zum Fenster und sah Lucien auf der Straße, der wild gestikulierte und ihre Namen schrie. Er hatte sich auf eine große Mülltonne gestellt, warum auch immer, vielleicht, um besser gehört zu werden, und schien sich nur mühsam im Gleichgewicht zu halten. Mathias nahm einen Besenstiel ohne Besen und klopfte zweimal an die Decke, um Marc zu wecken. Er hörte keine Reaktion und beschloß, auf seine Hilfe zu verzichten. Er kam genau in dem Moment bei Lucien an, als dieser von seinem Hochsitz fiel.
»Du bist ja völlig blau«, sagte er. »Was fällt dir ein, um zwei Uhr morgens hier auf der Straße zu randalieren?«
»Ich hab meine Schlüssel verloren, Alter«, stammelte Lucien. »Ich hab sie aus der Tasche geholt, um das Tor aufzumachen, und sie sind mir aus der Hand gefallen. Ganz von allein, ich schwör’s dir, ganz von allein. Sie sind runtergefallen, als ich an der Ostfront vorbei bin. Unmöglich, sie wiederzufinden bei der Dunkelheit.«
»Du bist sternhagelvoll. Komm rein, wir suchen deine Schlüssel morgen.«
»Nein, ich will meine Schlüssel!« schrie Lucien mit der kindischen und dickköpfigen Beharrlichkeit von Menschen, die gehörig einen in der Krone haben.
Er wand sich aus Mathias’ Umklammerung und begann mit gesenktem Kopf und unsicherem Schritt vor Juliettes Tor herumzusuchen.
Mathias sah Marc, der inzwischen wach geworden war, aus dem Haus kommen.
»Du hast dir ja Zeit gelassen«, bemerkte er.
»Ich bin kein Jäger«, erwiderte Marc. »Ich spring nicht beim ersten Gebrüll eines wilden Tieres auf. So, jetzt beeilt euch. Lucien wird alle Nachbarn aufscheuchen und Cyrille wecken, und du, Mathias, bist völlig nackt. Ich werf es dir nicht vor, ich sage es nur, das ist alles.«
»Na und?« sagte Mathias. »Dieser Idiot hätte mich ja nicht mitten in der Nacht aufzuwecken brauchen.«
»Du wirst erfrieren.«
Ganz im Gegenteil, Mathias verspürte eine angenehme Milde im Rücken. Er verstand nicht, wie Marc nur so kälteempfindlich sein konnte.
»Es geht«, sagte Mathias. »Mir ist eigentlich warm.«
»Na, mir nicht«, entgegnete Marc. »Los jetzt. Jeder einen Arm, wir bringen ihn rein.«
»Nein!« schrie Lucien. »Ich will meine Schlüssel!«
Mathias seufzte und begann ein paar Meter der gepflasterten Straße abzusuchen. Womöglich hatte dieser Idiot sie schon viel früher verloren. Nein, da lagen sie zwischen zwei Pflastersteinen. Luciens Schlüssel waren leicht zu erkennen: Er hatte einen kleinen Bleisoldaten darangehängt, mit roten Hosen und blauem Mantel mit hochgeknöpften Schößen. Auch wenn Mathias derartigen Belanglosigkeiten gleichgültig gegenüberstand, begriff er doch, daß Lucien daran hing.
»Ich habe sie«, rief er. »Rein mit ihm in den Unterstand!«
»Ich will nicht gestützt werden«, jammerte Lucien.
»Vorwärts«, erwiderte Marc, ohne ihn loszulassen. »Und auch noch bis in seinen dritten Stock. Das wird ja ewig dauern.«
»›Die militärische Idiotie und die Weite des Meeres sind die einzigen beiden Dinge, die eine Vorstellung von der Unendlichkeit vermitteln können‹«, bemerkte Mathias.
Lucien blieb mitten im Garten abrupt stehen.
»Wo hast du das her?« fragte er.
»Aus einer Frontzeitung mit dem Titel On progresse. Es steht in einem deiner Bücher.«
»Ich wußte nicht, daß du mich liest«, sagte Lucien.
»Es ist klug zu wissen, mit wem man zusammenlebt«, erwiderte Mathias. »Aber gehen wir weiter, mir wird langsam doch kalt.«
»Na, immerhin etwas«, sagte Marc.
27
Am nächsten Morgen beim Frühstück beobachtete Marc verwundert, wie Lucien zusammen mit seinem Kaffee auch den Teller Langusten verdrückte, den sie ihm aufgehoben
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