Die Schoene im Schnee
wollte es auch nicht ansprechen.“
Auf einmal mochte Mimi die andere Frau schon viel mehr.
„Wir vier haben so viel Blödsinn gemacht, das würden Sie gar nicht glauben. Wir haben uns mitten in der Nacht rausgeschlichen, um in den Bergen angeln zu gehen, haben die Pferde genommen, wenn wir nicht sollten, dem Tanzkomitee des Abschlussballs Streiche gespielt. Ich habe die anderen meistens davon abgehalten, irgendetwas Illegales oder Unmoralisches zu tun.“
„Sie waren also der Langweiler“, neckte sie ihn.
„Ja. Vielleicht habe ich ein bisschen zu sehr versucht, perfekt zu sein, damit Jo und Guff es sich nicht anders mit mir überlegten.“
Mimi verspürte Mitleid mit dem Jungen von damals. „Sie wollten aber gar nicht perfekt sein, oder?“
Diese Vermutung entlockte ihm ein weiteres, überraschendes Lachen. „Nein, ich wollte wie Cisco sein. Er hatte vor nichts Angst. Er konnte sich aus jedem Ärger herausreden. Das kann er eigentlich immer noch.“
„Lebt er hier in der Gegend?“
Sein Blick verdüsterte sich. „Nein. Er war nicht mehr hier, seit er achtzehn war. Jetzt ist er irgendwo in Lateinamerika.“
„Und was tut er da?“
„Darüber spricht er nicht viel. Ich habe zwar Vermutungen, ganz sicher weiß ich es jedoch nicht. Und um ehrlich zu sein, bin ich mir nicht sicher, ob ich es überhaupt wissen will.“
„Irgendetwas Illegales oder Unmoralisches?“
„Möglich“, gab er zurück.
Sie bemerkte die Sorge in seiner Stimme und hakte nicht weiter nach. „Und der andere? Southerland?“
„Quinn.“ Sein Lächeln sprach von ehrlicher Zuneigung. „Im Moment ist er in den Flitterwochen in Costa Rica. Erinnern Sie sich daran, dass ich gestern mit Easton über seine Hochzeit gesprochen habe? Er hat ein Mädchen geheiratet, das wir noch aus der Highschool kennen. Tess Jamison. Sie erwartet übrigens auch ein Kind.“ Er verzog das Gesicht. „Tut mir leid, ich wollte Sie nicht vollquatschen. Das Leben hier muss Ihnen im Vergleich zu Ihrem privaten Schweizer Internat und den Urlauben in Monaco ziemlich langweilig vorkommen.“
Mimi nippte an ihrer heißen Schokolade, die er ihr zuvor gebracht hatte. Leider war sie inzwischen nur noch lauwarm. „Das Internat war bei Paris, und den Urlaub haben wir für gewöhnlich in Cannes verbracht.“
„Das ist weit von Pine Gulch, Idaho, entfernt. Sie müssen sich zu Tode langweilen, wenn Sie hier mit mir pokern und meinen alten Geschichten zuhören.“
„Überhaupt nicht“, sagte sie wahrheitsgemäß. „Wenn Sie es genau wissen wollen, habe ich gerade gedacht, wie glücklich Sie eigentlich sein können.“
„Glücklich.“ Er wirkte erstaunt. „Weil mein Bruder gestorben ist, meine Mutter abgehauen ist und mein Vater ein Säufer war, der mich ständig verprügelt hat?“
„Nicht deswegen. Das ist ganz schrecklich. Ich meine diesen Ort. Cold Creek. Er strahlt eine solche Gelassenheit aus. Ich kann es nicht richtig erklären. Und Sie konnten ihn mit all den Menschen teilen, die Sie geliebt haben.“
„Hatten Sie denn niemanden?“
Sie wurde etwas unruhig. „Natürlich. Ich erzähle Ihnen schon nichts vom armen, reichen Mädchen. Mein Leben war so privilegiert, wie es sich die meisten Menschen kaum vorstellen können. Das weiß ich. Jachten, Penthouse-Wohnungen, Privatflugzeuge. Ich gebe es ungern zu, aber ich bin zum ersten Mal mit einer Linienmaschine geflogen, nachdem ich mich im Alter von neun aus dem Internat geschlichen hatte. Von meinem Taschengeld habe ich mir dann ein Ticket für den Rückflug nach New York gekauft.“
„Sie sind mit neun Jahren ganz allein von Paris nach New York geflogen?“
Sie zuckte die Achseln. „Es waren Weihnachtsferien, und ich habe mir nichts lieber gewünscht, als zu Hause zu sein. Mein Vater hatte gerade wieder geheiratet. Ehefrau Nummer vier, wenn ich mich recht entsinne. Jemma, die Frau vor Gwen. Kurz nach Weihnachten erwarteten sie ein Baby und wollten mich in dieser glücklichen Stunde nicht dabeihaben. Wie sich herausstellte, wurde mein Halbbruder Jack am Heiligabend geboren – nur wenige Stunden, bevor ich in unserer Wohnung in der Stadt aufgetaucht bin. Mein Vater war nicht gerade begeistert, mich zu sehen. Jemma logischerweise auch nicht. Aber ich fand Jack ganz bezaubernd. Bis heute übrigens. Von all den Halb- und Stiefgeschwistern ist er mir der Liebste.“
Sie lächelte versonnen, als sie an Jack dachte. Er hatte das Aussehen seiner Mutter und die Intelligenz seines Vaters geerbt.
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