Die schöne Mätresse
Überrock auszuziehen. Warum, fragte er sich wohl zum hundertsten Mal, diktierte die Mode so enge Herrenkleidung, dass man einen Diener brauchte, um sich an- oder auszukleiden? Dennoch verzichtete er auf Baines’ Hilfe, da der Mann Emily nur herablassend behandeln würde. Außerdem war das Haus zu klein, um noch einen Kammerdiener unterzubringen.
Schließlich gelang es Evan, sich von dem taillierten Rock zu befreien. Er zog ein frisches Hemd an, dann zwängte er seinen Arm in den schmalen Ärmel des Fracks. Mit einem Ruck kam seine Hand frei und prallte gegen die Wand.
Fluchend rieb er seine schmerzenden Knöchel. Dieser kleine Winkel zum Ankleiden war einfach nicht geschaffen für einen Mann seiner Größe, ganz zu schweigen von der niedrigen Zimmerdecke. Wieder einmal dachte er sehnsuchtsvoll daran, Emily in ein Haus umzuquartieren, das ihrer würdig war und genug Platz für ihn selbst bot.
Aber würde Emily diesem Wunsch zustimmen?
Er lächelte, als er an seine ursprüngliche Idee dachte, Emily ein elegantes Stadthaus mit diskreten Dienstboten und einer Kutsche zu überlassen, mit der sie in den Park, zum Einkaufen oder ins Theater fahren konnten. In ihrer ersten gemeinsamen Woche hatte er ihr ebendies vorgeschlagen – und eine heftige Zurückweisung erhalten.
Mit unvergleichlicher Würde hatte Emily sich erhoben und dafür entschuldigt, ihm eine Unterkunft zuzumuten, die weitaus unbequemer war als seine gewohnte Umgebung. Sein Angebot sei zwar überaus großzügig, aber ihr kleines Haus sei das beste Heim, das sie sich im Moment leisten könne, und sie würde auf keinen Fall ausziehen. Auch die Kutsche lehnte sie ab, da sie ohnehin zu beschäftigt sei, um spazieren zu fahren, und das Theater …
An diesem Punkt wich die Farbe aus ihren Wangen, und sie verstummte.
Evan verfluchte sich für seine Dummheit. Zweifellos stellte sie sich vor, wie sie der gesamten vornehmen Gesellschaft in einer Theaterloge präsentiert wurde, wie die Damen ihre Operngläser hoben und Evans neueste Eroberung verächtlich musterten. Bevor er sie um Verzeihung bitten konnte, erklärte sie kühl, dass sich eine Geschäftsfrau solchen Vergnügungen nicht hingeben könne.
Danach hatte sie sich ihm gegenüber kalt und abweisend verhalten. Er hatte seinen ganzen Charme aufbieten müssen, um schließlich nach zwei Tagen die leidenschaftliche Geliebte zurückzubekommen, die sie vorher gewesen war. Seither hatte er auf solche Vorschläge verzichtet, um sie nicht wieder zu verletzen. Er hatte nicht einmal protestiert, als sie ihm unmissverständlich verkündet hatte, sie würde ihn niemals in der Öffentlichkeit begleiten.
Es bedurfte keiner großen Worte. Evan verstand instinktiv, dass sie es nicht ertragen konnte, als seine Mätresse vorgeführt zu werden.
Einige Wochen später bummelte er über die Bond Street, als er zufällig eine exquisite Mantilla aus silbern schimmernder Spitze entdeckte, die an einem diamantenbesetzten Kamm befestigt war. Sofort dachte er an Emily. Vielleicht hatte ihr der Soldat einen ähnlichen Kopfschmuck geschenkt, als sie in Spanien lebten, aber niemals einen so kostbaren wie diesen.
Doch Evans heimlicher Stolz schwand in dem Moment, als sie das Präsent auspackte.
„Du hättest es nicht kaufen sollen“, flüsterte sie mit einem gezwungenen Lächeln.
„Es gefällt dir nicht.“
„Oh doch, die Mantilla ist wunderschön. Es ist nur … du hast mir schon so viel gegeben.“
Seine unerklärliche Eifersucht kam zurück, und er fragte, ohne nachzudenken: „Hat dir dein Ehemann denn niemals Geschenke gemacht?“
Sie senkte den Kopf und strich verlegen über die Diamanten auf dem Kamm. „Das war … etwas anderes. Außerdem würde es lächerlich wirken, wenn ich das hier im Geschäft trage.“
Es war eine deutliche Erinnerung, dass sie sein Geschenk nirgends tragen würde – nicht in seiner Begleitung.
Ihr andauerndes Unbehagen über die Unschicklichkeit ihrer Affäre war der einzige Schatten, der über die glücklichsten acht Wochen in seinem Leben fiel.
Emily war ein Wunder! Vom ersten Tag an hatte sie ihn immer wieder mit ihrem Talent und ihrer Intelligenz verblüfft. Selbst ihre Schönheit hatte für ihn nichts an Reiz verloren. Stattdessen fühlte er sich noch mehr zu ihr hingezogen, wenn dies überhaupt möglich war.
Er war so bezaubert von ihr, dass er sogar einige gesellschaftliche Termine vergessen hatte, zu denen er eingeladen war. In letzter Zeit mied er solche Anlässe immer
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