Die schöne Spionin
Kutscher. Der große Mann, der bis eben noch so reglos auf seinem Platz gesessen hatte, warf sich mit der tödlichen Gewalt eines Bären auf Simon. Simon gelang es anfangs, dem großen Messer in der Hand des Angreifers auszuweichen, doch der nächste Stoß traf seinen Wollpullover und schnitt heiß über seinen Magen.
Es brannte, aber da seine Eingeweide nicht augenblicklich aufs Pflaster quollen, ignorierte Simon es einfach. Er wusste, dass er dem Burschen mit Fäusten nicht beikam, denn der war offensichtlich gut trainiert.
Simon packte hastig Lavinias Pistole und drückte sie dem Kerl ans Herz. Der Mann erstarrte. »Tut mir Leid, ist nicht sehr sportlich, aber ich hatte einen sehr langen Tag.«
Dann versetzte er dem Riesen einen katastrophalen Tritt in die Lenden, dem ein Schlag mit dem Pistolenlauf auf den Kopf folgte. Simon trat schnell zur Seite, bevor der große Mann umfiel.
Ein paar von den Parlamentswachen näherten sich, und Simon überließ es ihnen hocherfreut, die Verschwörer dingfest zu machen. Eine Hand in die Seite pressend rannte er zu der Stelle, wo sich die Menschenmenge um Agatha versammelt hatte.
Sie kniete blutüberströmt auf dem Pflaster. Simon blieb fast das Herz stehen, doch dann begriff er, dass es nicht ihr Blut war, sondern James’, der reglos in ihren Armen lag.
»Oh, Gott«, keuchte Simon.
Neben ihm wischte sich ein zitternder Liverpool mit einem Leinenfetzen die Stirn. »Hat sich direkt vor mich geworfen. Ich wusste gar nicht, was los ist, bis das Mädchen zu schreien angefangen hat.« Liverpool nahm erstmals Notiz von Simon.
»Was, zur Hölle, machen Sie hier? Sie dürfen sich nicht sehen lassen!«
Simon kämpfte einen Augenblick lang mit sich. Er wurde hier gebraucht. Agatha brauchte ihn.
Liverpool wedelte mit dem Gehstock. »Los, Mann! Sie dürfen nicht auffliegen. Wir können es uns nicht leisten, dass man Sie in der Öffentlichkeit sieht«, zischte er.
Widerwillig trat Simon zurück. Es fiel ihm sehr schwer. Er dachte, die Welt müsse gehört haben, wie seine Seele sauber in zwei Teile brach.
Er ging aber nicht. Er konnte nicht. Also hielt er sich wie viele andere, die einfache Arbeitskleider trugen, am Rande der Menge. Einen Augenblick später kam ein Mann aus dem Parlamentsgebäude gerannt, der einen Arztkoffer bei sich hatte.
»Eine Schulterverletzung«, verkündete er nach einer hastigen Untersuchung. »Er hat viel Blut verloren, aber er wird es überleben.«
Simon schloss erleichtert die Augen. Dann sah er zu, wie sie James, unter Aufsicht des Doktors, vorsichtig wegtrugen. Die Wachen zerrten Lavinia und ihren Fahrer vor Lord Liverpool.
»Sie haben einen schweren Akt des Hochverrats begangen, Lady Winchell«, verkündete Liverpool mit lauter Stimme. »Der Versuch, den Premierminister Englands zu ermorden, wird sie hoch hinauf an den Galgen bringen.«
Lavinia umklammerte ihren gebrochenen Arm und winselte: »Aber ich habe nicht auf Sie gezielt, Mylord. Ich habe auf James Cunnington gezielt. Ich bin nur eine betrogene Frau, die ihren Geliebten bestrafen wollte! Ich habe Zeugen, die bestätigen können, dass wir eine Beziehung haben. Sie können nicht beweisen, dass dem nicht so ist.«
»Doch, ich schon.« Agatha trat vor. Ihre Stimme übertönte das Geschrei Lavinias.
»Sie!« Lavinia verzog das Gesicht. »Hören Sie nicht auf die kleine Lügnerin, Mylord. Sie will mir Cunnington abspenstig machen. Sie würde alles sagen, um mich aus dem Weg zu räumen.«
Simon sah stolz zu, wie Agatha das Kinn reckte und Lavinia ins Gesicht sah. »Stellen Sie sich nicht dümmer, als Sie sind, Lavinia. James ist nicht mein Liebhaber, er ist mein Bruder.«
Sie sagte an Liverpool gewandt: »Lavinia hat mich gestern vor dem Hospital entführt. Wie ich annehme, in der Hoffnung, meinen…«
Simon sah, wie sie sich besorgt nach ihm umschaute, aber er durfte jetzt nicht vortreten.
»…meinen Bruder abzulenken, damit er das Attentat nicht verhindert«, fuhr Agatha fort.
»Sie und Ihr Bruder sind sehr zu loben. Es passiert nicht alle Tage, dass
einfache Bürger
in Aktion treten, die Regierung zu verteidigen.«
Liverpool wollte Agatha offensichtlich sagen, dass sie die Rolle, die die Liars dabei gespielt hatten, nicht preisgeben solle, und Simon sah ihr winziges Nicken, bevor sie fortfuhr.
»Lady Winchell hat mir von ihrem Plan berichtet, sie hat wohl gedacht, ich sei zum Zeitpunkt des Anschlags längst schon tot.«
Agatha legte den Kopf schief und betrachtete Lavinia
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