Die schöne Spionin
eine Hand legen sie so hin, Mr Applequist. Und dann nehmen Sie leicht – ich sagte ›leicht‹, nicht so, als würden Sie nach einer Kohlenschaufel greifen! – leicht die Hand der Dame, genau so, und halten sie präzise auf Schulterhöhe.«
Simon hörte nicht zu. Ihrem Mund beim Sprechen zuzusehen, interessierte ihn weit mehr. Es war schon seltsam, wie alles an ihr, für sich selbst betrachtet, nicht sonderlich viel hermachte. Es war die Mischung, die so attraktiv war.
Sie war keine wirkliche Schönheit, aber die blitzenden braunen Augen, die vollen Lippen und der rosige Teint ergaben eine anziehende Mixtur.
Besonders mochte er ihre Lippen. Sie waren hochrot, ganz aus eigener Kraft, und wenn sie nervös war, neigte die hübsche Mrs Applequist dazu, sie schnell mit der Zunge zu lecken.
Da. Schon wieder. Jedes Mal, wenn sie es tat, sehnte er sich ein klein wenig mehr nach ihr.
Ihm fiel auf, dass er diese Lippen nie wirklich hatte lächeln sehen. Sie hatte ihren Besucherinnen ein freundliches Gesicht gezeigt und war nett zu den Dienstboten, aber er hatte sie nie ungekünstelt lächeln sehen.
Er wollte es sehen. Unbedingt. Er war es deshalb auch leid, sich dazu zu zwingen, ihr auf die Zehen zu steigen.
»Wissen Sie, da wo ich herkomme, ist Tanzen nicht nur für die reserviert, die sich dafür herausgeputzt haben.«
»Was meinen Sie damit?«
»Meine Mam hat am Markttag auf dem Covent Garden gearbeitet. Wenn am Abend alles zusammengepackt war, haben sich die Geiger und die anderen Straßenmusikanten auf den leeren Platz gestellt und bis in die Nacht hinein gespielt.«
»Ich war bis jetzt noch nicht auf dem Covent-Garden-Markt. Was hat Ihre Mutter verkauft?«
Sich selbst. Aber dieses delikate Detail würde Simon für sich behalten.
»Oh, dies und das.«
»Und Ihr Vater?«
Lieber nicht darüber reden. »Erzähl ich Ihnen was oder Sie mir?«
»Entschuldigen Sie. Fahren Sie bitte fort.«
Tat er aber nicht, jedenfalls nicht gleich. Er erfreute sich einfach an dem Gefühl, sie im Arm zu spüren, während sie sich zum Klang der Spieldose durch den Salon bewegten.
»Mr Rain? Sie wollten mir erzählen, was die Musikanten am Ende des Markttages gemacht haben.«
»Wir haben uns um sie geschart, nachdem die normalen Kunden nach Hause sind. Die, die Geld hatten, haben die letzten Kuchen und Fleischpasteten für fast nichts aufgekauft und verteilt. Dann haben sie den Schnaps hervorgeholt und die vom Waren-Ausrufen trockenen Kehlen befeuchtet, und es ist recht lustig geworden.«
Manchmal war es auch recht gefährlich geworden, aber das brauchte sie nicht zu wissen.
»Dann haben sie getanzt. Der Bäcker in seiner Schürze, die Händler mit ihren Schiebermützen. Ohne sich um ihre Kleider zu scheren, nur aus Freude am Tanzen und weil wieder ein Tag gut zu Ende gegangen war.«
Mrs Applequist zog eine Braue hoch. »Ich war in meinem Leben oft auf ländlichen Tanzabenden, Mr Rain. Fröhlicher als das kann es auch nicht gewesen sein.«
»Ich kenn solche Tanzabende nicht, aber wenn da keine Zigeuner aufgespielt haben, dann können die nicht schneller gewirbelt sein, als meine Mam und der Bäcker.«
Sie sah ihn neugierig an. »Gewirbelt? Ich könnte nicht sagen, dass ich jemals gewirbelt wäre«, sagte sie ein wenig sehnsüchtig.
Simon entließ sie aus seinem Arm und trat ein Stück zurück. Er berührte den Boden der Spieldose mit einem Finger und beendete das langsame Geklingel.
»Aber Mr Rain, wir sind noch nicht fertig…«
Er klatschte scharf in die Hände und begann eine fröhliche Melodie zu pfeifen. Er lachte sie aufmunternd an, nahm ihre Hände und klatschte sie ineinander, bis sie den Rhythmus begriffen hatte.
Dann trat er zurück, stampfte einen kontrapunktischen Takt, trat forsch wieder vor, wieder zurück und drehte sich.
Die Lady schien definitiv interessiert. Sie kaute auf der Lippe, während sie mit den Augen den Schritten folgte und mit den Händen den Takt hielt. Als Simon sah, dass sie begriffen hatte, nahm er sie bei den Händen, drehte sie herum und fing aus voller Kehle zu singen an:
»Los, mein Junge, hol dir ’ne Frau,
Nimm ihre Hand und dreh sie herum
Kommt sie wieder, weißt du’s genau
Kommt sie nicht, dann sei es drum!
Pack dir die Nächste, was ist schon dabei?
Und gefällt sie dir nicht, dann nimm dir zwei.«
Agatha wirbelte herum. Wie verrückt drehte sie sich zu Simons derbem Liedchen im Kreis und klatschte dazu in die Hände, bis ihr der Kopf schwirrte. Benommen streckte sie die
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