Die schoene Tote im alten Schlachthof
Leinwand
jedoch lag zertreten auf dem Boden. Ferschweiler und de Boer schauten sich
erstaunt an. Dass es tatsächlich schade um das Bild war, daran zweifelte
Ferschweiler stark. Aber so viel Aggression nur wegen einer Ausstellung? Das
hätte er nicht für möglich gehalten. Konkurrenz und Neid waren allerdings klassische
Motive für ein Kapitalverbrechen. Sie würden ihre Verhöre auf alle Studierenden,
die mit Melanie Rosskämper Kurse besucht hatten, ausweiten müssen.
Die Befragungen der restlichen Kursteilnehmer und
Dozenten, die näher mit der schönen Toten zu tun gehabt hatten, hatten schon den
ganzen Vormittag über angedauert. Auch der Nachmittag würde dafür eingeplant
werden müssen. Konkrete Ergebnisse gab es bisher allerdings noch keine. Zwar
hatten Ferschweiler und de Boer inzwischen ein besseres Bild davon gewonnen,
wie Melanie Rosskämper auf ihre Mitmenschen gewirkt hatte und zudem die durch
Konkurrenzdruck und Animositäten angespannte Atmosphäre an der Akademie besser
kennen- und verstehen gelernt, doch waren sie noch keinen wirklichen Schritt
weiter. Auch im Zusammenhang mit dem Tod von Ulrike Kinzig gab es keine neuen
Erkenntnisse. Die meisten der befragten Kursteilnehmer kannten sie nur flüchtig
vom Sehen, kaum einer hatte jemals mit ihr gesprochen. Ferschweiler und de Boer
hatten allerdings den Eindruck gewonnen, dass dies eher am Charakter der
Putzkraft gelegen hatte und weniger von irgendwelchen Standesdünkeln bei den
Künstlern herrührte.
Ferschweiler hatte de Boer nach der Mittagspause zurück ins Präsidium
geschickt, damit dieser die Angaben überprüfen sollte, die die bisher verhörten
Teilnehmer gemacht hatten. Er selbst war mit einer Tasse Kaffee wieder in die
Lithowerkstatt gegangen und bereitete sich auf die nächsten Vernehmungen vor.
Als Nächsten hatte Ferschweiler Hans-Joachim von Stiependorf einbestellt.
Als dieser den Raum betrat, schaute Ferschweiler, der gerade seine
Aufzeichnungen noch einmal durchgegangen war, auf und war erstaunt.
»Guten Tag, Herr Kommissar. Mein Name ist Stiependorf, Hans-Joachim
von Stiependorf.«
Der Mann, der vor Ferschweiler stand, hatte schlohweißes, schulterlanges,
zu einem Pferdeschwanz zusammengebundenes Haar. Er trug einen roten Overall,
der an einigen Stellen weiße und schwarze Farbflecken aufwies. Anscheinend
gehört das hier zur Tracht, dachte Ferschweiler. Künstler mussten sich
offensichtlich mit Farbe bekleckern, sauberes Arbeiten war wohl nicht mehr en
vogue. Seine alte Kunstlehrerin Helga Spieß an der Kurfürst hätte ihm da etwas
anderes erzählt.
Der Reißverschluss des Overalls von Stiependorf war nur bis knapp
zur Brust geschlossen. Darunter trug er ein weißes T-Shirt mit V-Ausschnitt,
unter dem Brusthaare von der gleichen Farbe, wie sie seinen Kopf zierten, in
üppiger Dichte hervorquollen. Zudem trug Hans-Joachim von Stiependorf eine
beeindruckende Goldkette mit einem Marienbild als Anhänger. Ein praktizierender
Katholik, dachte Ferschweiler. Auch das noch.
Ferschweiler hätte beinahe breit gegrinst, doch er ließ sich nicht anmerken,
welchen Eindruck der ältliche Kunststudent auf ihn machte, dafür hatte er in
seiner langjährigen Laufbahn schon zu viel gesehen. Stattdessen bat er
Hans-Joachim von Stiependorf, Platz zu nehmen.
»Herr von Stiependorf, Sie wissen sicherlich bereits, warum wir hier
sind«, begann Ferschweiler die Befragung und bat den Mann zunächst, weitere Angaben
zu seiner Person zu machen. Als von Stiependorf sich darüber beschwerte, dass
de Boer ihn ja schon befragt hatte, entgegnete Ferschweiler: »Routine, Herr von
Stiependorf, alles Routine. So läuft das halt bei der Polizei. Also bitte.«
Von Stiependorf war vierundsechzig Jahre alt, von Beruf
Chemietechniker bei der BASF und wohnte in
Mannheim. Er war zur Tatzeit allein in der Radierwerkstatt gewesen und hatte
somit kein Alibi, wie Ferschweiler in seinem Protokoll festhielt. Mit Ulrike
Kinzig hatte er nie etwas zu tun gehabt. Er gab zu Protokoll, ihm habe nie
etwas an einer Unterhaltung mit ihr gelegen, er habe immer den Raum verlassen,
wenn sie zum Putzen gekommen sei. Auch Melanie Rosskämper kannte von
Stiependorf nur flüchtig aus einem zurückliegenden Kurs bei Doris Egger. Er
selbst bezeichnete sich als einen »Stammkunden« der Kunstakademie – ein
merkwürdiger Begriff für einen Künstler in Ausbildung oder Selbsterprobung, wie
Ferschweiler fand.
»Herr Kommissar, ich bin sozusagen ein Teilnehmer der ersten Stunde.
Anders
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