Die schoene und der Lord
sie kaum eine halbe Seite mit Notizen aufzuweisen hatte. Der Colonel würde ganz und gar nicht mit ihr zufrieden sein, dachte sie und verzog besorgt das Gesicht.
Catriona sah hinüber zu dem offenen Gang, von wo die Stimme gerufen hatte. Jetzt war es wieder still, und nur ein ferner Widerhall kündete von der See, die sich jenseits der Finsternis befand. Nur noch eine Stunde. Wenn sie doch bloß eine Stunde länger bleiben könnte, wäre sie dem Ziel ihrer Suche wieder etwas näher. Wenigstens würde der Colonel dann nicht hinter die Wahrheit kommen, daß sie nämlich wieder die ganze Zeit über gelesen hatte, anstatt der Suche nachzugehen, die ihr aufgetragen war. Sie blickte noch einmal zum Gang hinüber. Vielleicht würde Mairead ja einfach Weggehen, wenn sie ihr nicht antwortete.
Catriona legte Malorys Buch beiseite, ohne es zuzuklappen, damit sie die Passage zu Ende lesen konnte, falls sie später noch einmal die Zeit fand, herzukommen. Sie griff nach dem Buch, das ihr am nächsten lag und fing an, seine vergilbten
Seiten durchzublättern. Ihre Schwester aber weigerte sich stur, ihrem heimlichen Wunsch zu entsprechen.
»Catriona? Bist du dort oben?«
Catriona ließ sich nicht stören und notierte etwas auf ihrem Blatt, bevor sie zum nächsten Buch überging. Mit einemmal wünschte sie sich, sie hätte Mairead nie den verborgenen Eingang zum Schloß gezeigt.
»Catriona MacBryan, ich höre dich kritzeln, und ich sehe das Flackern deiner Kerze an diesen modrigen Schloßmauern. Jetzt komm schon raus, bevor wir noch mehr Ärger bekommen.« Mairead schwieg kurz. »Falls du es vergessen hast, Dad kommt heute nach Hause. Du weißt doch, daß er dir verboten hat, nochmal herzukommen.«
Catriona hielt beim Blättern kurz inne. Dad hatte sie ganz vergessen, was merkwürdig war, denn an ihn dachte sie sonst immer, wenn sie hierher kam. Angus Mac Bryan ließ kaum je eine Gelegenheit aus, seine ältere Tochter vor den Gefahren dieses alten Schloßgemäuers zu warnen und ihr die schlimmen Folgen auszumalen, mit denen sie zu rechnen hätte, wenn man sie je dort erwischen würde. Es würde ihm gar nicht gefallen, wenn er sie bei seiner Heimkehr nicht antraf, und wahrscheinlich würde er sofort erraten, wo sie steckte. Da er ihr aber ohnehin böse wäre, überlegte Catriona, könnte sie ebensogut noch etwas länger bleiben. Jetzt, wo ihr Vater wieder zu Hause war, würden Wochen vergehen, bevor sie wieder eine Gelegenheit fände, herzukommen — ein böser Rückschlag für ihre Suche. »Ich zähle bis drei, dann komme ich rauf und hole dich.« Mairead blieb hartnäckig.
Einen Moment noch.
»Ems...«
»Lästige Mairead«, flüsterte Catriona vor sich hin und markierte die Buchstelle, die sie gerade gelesen hatte, mit einem Stück Bindfaden. Es sah nicht danach aus, als könnte sie ihre Lektüre heute abend noch fortsetzen.
»Zwei...«
Sie begann, die übrigen Bücher aufzuheben, um sie wieder an ihre Stellen in den Regalen einzusortieren.
»Catriona, wenn du mich zwingst, jetzt da hoch zu kommen, dann schwöre ich ...«
»Schon gut!« rief Catriona. »Du klingst ja genau wie die alte Miss Grimston, die mich während des Unterrichts immer so mit ihren schwarzen Knopfäuglein angestarrt hat. Geh schon mal vor und Richtung nach Hause. Ich komme sofort nach.« Wenige Minuten später schob Catriona widerstrebend das letzte Buch, den Malory, zurück ins Regal und ließ ihre Finger noch ein wenig auf dem alten Ledereinband verweilen. Einen kurzen Augenblick lang erwog sie, es einfach mitzunehmen. Selbst wenn jemand vor ihrer Rückkehr in das Schloß kommen sollte -wie würde er das Fehlen dieses einen Büchleins unter all den vielen anderen bemerken? Die Wände des Raumes standen voll davon. Doch während sie noch darüber nachsann, wußte Catriona, daß sie den Malory nicht mit nach Hause nehmen durfte. Die Bücher zu lesen, während sie hier war, war nicht verboten. Aber es wäre Diebstahl schon recht nahegekommen, wenn sie sie mitgenommen hätte, und sei es auch nur für kurze Zeit. Catriona trat einen Schritt zurück und betrachtete die Regale, um sich zu vergewissern, daß kein Buch hervorstand, woraus jemand hätte schließen können, daß sie verrückt worden waren. Im Grunde aber war dies albern — nur wenige Menschen verirrten sich je in das Schloß, und wenn sie herkamen, dann waren ihre Besuche sehr selten und unregelmäßig. Viele der Bücher, die in diesen Regalen standen, sahen aus, als wären sie noch nie
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