Die schoene und der Lord
denkwürdigen Tag und auch nach dem Tod der Duchesse vor fünf Jahren hatte der Herzog den Schreibtisch nie wieder erwähnt. Jetzt wußte er, weshalb.
»Die Schublade ist verschlossen«, sagte sie; genau dies hatte Robert vermutet.
»Und sie weist auch kein Schlüsselloch auf«, fügte er hinzu. »Ja, das stimmt. Wie kann man sie öffnen?«
»Wenn ich mich recht entsinne, gibt es eine Art Mechanismus dafür, aber er ist sehr schwer ausfindig zu machen.«
Sie ruckelte an etwas herum, das wie eine Schublade klang. »Nehmen Sie sich in acht«, sagte er, »wenn Sie zufällig die falsche Schublade erwischen, könnte es sein, daß Sie eine Ladung Tinte abbekommen.«
»Faszinierend«, sagte sie. »Obwohl ich keinen Mechanismus entdecken kann. Vielleicht könnten Sie mir zeigen, wo er sich befindet.«
»Das glaube ich kaum.«
»Warum denn nicht?«
»Falls es Ihnen entgangen sein sollte, Miss, ich bin blind.«
Er hörte, wie sie auf ihn zukam. »Heißt das, Sie haben auch Ihr Gedächtnis und den Gebrauch Ihrer übrigen Sinne verloren?« Sie nahm seine Hand. Diese Vertraulichkeit und die plötzliche, unerwartete Berührung verblüfften Robert ein wenig, aber er widersetzte sich ihr nicht, als sie ihn zum Aufstehen bewegte. Bereitwillig ließ er sich von ihr an den Schreibtisch geleiten.
»Verlassen Sie sich möglichst auf die Ihnen zur Verfügung stehenden Fähigkeiten, und denken Sie nicht an das, was Ihnen fehlt«, riet sie ihm. »Sie haben diesen Tisch gesehen, bevor Sie Ihr Augenlicht verloren?«
» Ja.«
»Schön. Sie stehen jetzt hinter dem Schreibtisch. Rufen Sie sich das Bild vor Augen. Zu beiden Seiten befinden sich je zwei Reihen von Schubladen. Direkt unter der Schreibfläche ist eine schmalere Lade. Wissen Sie noch, wo der Mechanismus zu finden ist, der das Schloß öffnet?«
Robert versuchte, sich den Schreibtisch bildlich vorzustellen, indem er sich an jenen lang vergangenen Tag erinnerte. »Ich glaube, er befindet sich irgendwo unter der mittleren Schublade.«
»Wo genau?« Sie nötigte ihn, sich zusammen mit ihr vor dem Schreibtisch auf den Boden zu knien, wo sie seine Hand gegen das glatte Holz legte. »Zeigen Sie es mir.«
Robert fuhr mit den Fingern an der Unterseite des Schreibtisches entlang und versuchte, ihrer Anregung folgend, sich zu erinnern. Sein Tastsinn ermöglichte ihm, die Umrisse des Schreibtisches und die Lage der einzelnen Schubladen nachzuvollziehen, und er langte weiter nach hinten, wo sich seiner Erinnerung nach der Mechanismus befinden mußte. Er hielt inne, als er eine leichte Erhebung in der Holzfläche ertastete. »Hier.«
Sie lehnte sich näher und legte ihre Finger neben die seinen. Dabei streifte ihr Haar sein Gesicht. Es fühlte sich weich an und duftete süß und nach Blumen, und ihre ganze Persönlichkeit schien in diesem frischen, fremdartigen Duft mitumrissen.
Robert ertappte sich dabei, wie er sein Gesicht unwillkürlich dichter an ihr Haar schob.
»Ich hab’s gefunden«, sagte sie. »Wie genial es in die Holzstruktur eingebettet ist.«
Robert erhob sich wieder und trat ein wenig von ihr zurück; seit ihrer Berührung kam ihm der Raum merklich wärmer vor, was ihn ein wenig aus der Fassung brachte. »Es ist so eingerichtet worden, um Unbefugten jeglichen Zugriff zu verwehren. Ein Schloß hätte man manipulieren können. Wenn man von dem Mechanismus nichts wüßte, würde man ihn auch nie finden.«
»Ja, aber Sie haben ihn gefunden, ohne ihn sehen zu müssen. Anstelle Ihrer Sehkraft brauchten Sie sich bloß auf Ihren Tastsinn und Ihr Gedächtnis zu verlassen. Ich könnte mir vorstellen, daß es so ist, als würden Sie wieder laufen lernen.« Darauf vermochte Robert nicht das geringste zu erwidern. »Wie kommt es, daß Sie überhaupt Kenntnis von dem verborgenen Mechanismus haben?« fragte sie.
»Dieser Schreibtisch gehörte einst meinem Vater.«
»Dann sind Sie also der Sohn des Gutsherrn? Der Erbe von Rosmorigh?«
Beim Wort Erbe zuckte Robert leicht zusammen. Früher hätte er sich im Verhältnis zu seinem Vater nie in dieser Position vorstellen können. Dieser Anspruch hatte Jameson auf Lebenszeit gebührt, war sein rechtmäßiger Titel. Robert hatte nie nach dem Rang getrachtet, und schon gar nicht unter den Umständen, unter denen er ihm dann schließlich übertragen wurde. Und doch war er ihm aus irgendeinem sinnlosen Grund zugefallen, und zum ersten Mal seit jener schrecklichen Nacht vor einigen Monaten fühlte Robert sich stark genug, ganz offen
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