Die Schönen und Verdammten
entwarf ein Bild von Anthony, das Ähnlichkeit mit einem gemarterten und [468] verklärten Christus hatte. Eine Zeitlang dachte sie über ihn so, wie er in seinen wehleidigeren Momenten vermutlich über sich selbst dachte.
Um fünf Uhr lag sie immer noch wach. Ein geheimnisvolles Schleifgeräusch, das jeden Morgen auf der anderen Seite des Hofes einsetzte, verriet ihr die Stunde. Sie hörte einen Wecker klingeln und sah auf einer scheinbar kahlen Wand gegenüber ein gelbes Lichtquadrat. Mit dem unklaren Vorsatz, ihm auf der Stelle nach Süden zu folgen, wurde ihr Schmerz fern und unwirklich und zog sich von ihr zurück, so wie das Dunkel nach Westen abzog. Sie schlief ein.
Als sie aufwachte, erzeugte der Anblick des leeren Bettes neben ihr neuerliche Trübsal, die jedoch kurz darauf von der unweigerlichen Gefühllosigkeit des hellen Morgens zerstreut wurde. Auch wenn sie sich dessen nicht bewusst war, verschaffte es ihr Erleichterung, das Frühstück einzunehmen, ohne sich Anthonys müder und sorgenvoller Miene gegenüberzusehen. Jetzt, da sie allein war, verlor sie jedes Verlangen, am Essen herumzumäkeln. Sie würde ihre Frühstückskost umstellen, dachte sie – Limonade trinken und ein Tomatensandwich essen statt der ewigen Eier mit Speck und Toast.
Gegen Mittag jedoch, als sie etliche ihrer Bekannten angerufen hatte, darunter die martialische Muriel, und feststellen musste, dass jede von ihnen bereits zum Mittagessen verabredet war, überließ sie sich einem stillen Mitleid mit sich selbst und ihrer Einsamkeit. Mit Bleistift und Papier auf dem Bett zusammengerollt, schrieb sie Anthony einen weiteren Brief.
Am Spätnachmittag traf ein in einer kleinen Stadt in New [469] Jersey aufgegebener Eilbrief ein, und die geläufigen Wendungen, der beinahe hörbare Unterton von Sorge und Unzufriedenheit waren ihr so vertraut, dass sie sich getröstet fühlte. Wer weiß? Vielleicht würde die Armeedisziplin Anthony abhärten und ihn an den Gedanken regelmäßiger Arbeit gewöhnen. Unerschütterlich vertraute sie darauf, dass der Krieg zu Ende sein würde, bevor er zum Fronteinsatz gelangte; unterdessen würden sie ihren Prozess gewinnen und könnten wieder von vorn beginnen, diesmal aber auf einer anderen Grundlage. Der erste Unterschied wäre, dass sie ein Kind haben würden. Es war unerträglich, so mutterseelenallein zu sein.
Es dauerte eine Woche, bis sie sich im Apartment aufhalten konnte, ohne sich die Augen auszuweinen. Die Stadt schien wenig Abwechslung zu bieten. Muriel war in ein Krankenhaus in New Jersey verlegt worden, von wo sie jede zweite Woche einen Stadturlaub nahm, und dank dieser Abtrünnigkeit merkte Gloria allmählich, wie wenig Freunde sie in all den Jahren in New York gewonnen hatte. Die Männer, die sie kannte, dienten in der Armee. »Die Männer, die sie kannte?« – halb unbewusst gestand sie sich ein, dass alle Männer, die sich je in sie verliebt hatten, für sie Freunde waren. Jeder von ihnen hatte für eine gewisse, nicht unbeträchtliche Zeitspanne ihre Gunst mehr als alles andere im Leben geschätzt. Aber jetzt – wo waren sie jetzt? Wenigstens zwei von ihnen waren tot, ein halbes Dutzend oder mehr verheiratet, der Rest in alle Winde verstreut, von Frankreich bis zu den Philippinen. Sie überlegte, ob auch nur einer von ihnen an sie dachte, wie oft und in welcher Hinsicht. Die meisten stellten sich wohl immer noch das [470] kleine siebzehnjährige Mädchen vor, die halbwüchsige Sirene von vor neun Jahren.
Auch die Mädchen hatte es in die Ferne verschlagen. Auf der Schule hatte sie nie viele Freundinnen gehabt. Sie war zu schön gewesen, zu faul, sich zu wenig im Klaren, dass sie ein Farmover-Mädchen und, in ehernen Großbuchstaben, eine ZUKÜNFTIGE FRAU UND MUTTER war. Und Mädchen, die noch nie geküsst worden waren, machten mit einem schockierten Ausdruck in ihren reizlosen, aber nicht sonderlich kräftigen Gesichtern Andeutungen, dass es um Gloria anders bestellt war. Dann waren diese Mädchen nach Osten, Westen oder Süden gezogen, hatten geheiratet und waren zu »Leuten« geworden, die, wenn sie über Gloria Voraussagen machten, immer nur voraussagten, dass es ein schlimmes Ende mit ihr nehmen würde – ohne zu begreifen, dass kein Ende schlimm war und dass sie, wie Gloria, durchaus nicht Herrinnen über ihr Schicksal waren.
Gloria listete die Leute auf, die sie im grauen Haus in Marietta besucht hatten. Damals schien es, als hätten sie ständig Gesellschaft – sie hatte
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