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Die Schönen und Verdammten

Die Schönen und Verdammten

Titel: Die Schönen und Verdammten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: F. Scott Fitzgerald
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sich der unausgesprochenen Überzeugung hingegeben, dass hinterher jeder Gast ein bisschen in ihrer Schuld stand. Sie schuldeten ihr so etwas wie moralische zehn Dollar pro Kopf, und sollte sie jemals in Not geraten, so könnte sie gewissermaßen auf diese imaginäre Währung zurückgreifen. Aber sie waren verschwunden, verstreut wie Spreu, hatten sich, geistig oder körperlich, auf rätselhafte und hintergründige Weise verflüchtigt.
    Um die Weihnachtszeit war Gloria erneut zu der Überzeugung gelangt, sie müsse sich Anthony anschließen – das war keine jähe Gefühlsaufwallung mehr, sondern ein [471] regelmäßig wiederkehrendes Bedürfnis. Sie beschloss, ihm ihre Ankunft anzukündigen, verschob dies jedoch auf Anraten von Mr. Haight, der beinahe wöchentlich damit rechnete, dass der Fall vor Gericht käme.
    Eines Tages Anfang Januar, als sie die von Uniformen glänzende und mit den Flaggen der tugendhaften Nationen behängte Fifth Avenue entlangging, traf sie Rachael Barnes, die sie seit fast einem Jahr nicht mehr gesehen hatte. Selbst Rachael, der sie nichts mehr abgewinnen konnte, versprach Erleichterung vom Ennui, und gemeinsam gingen sie ins Ritz, um etwas zu sich zu nehmen.
    Nach einem zweiten Cocktail begannen sie zu schwärmen. Sie mochten einander. Sie sprachen über ihre Gatten, Rachael in jenem Tonfall öffentlicher Prahlerei, einhergehend mit privaten Vorbehalten, in dem sich Ehefrauen auszudrücken belieben.
    »Rodman ist mit dem Quartiermeisterkorps außer Landes. Er ist Captain. Er wollte unbedingt in den Krieg ziehen und war der Meinung, einen anderen Posten würde er nicht finden.«
    »Anthony ist bei der Infanterie.« Die Worte, zusammen mit dem Cocktail, verliehen Gloria eine Art Glanz. Mit jedem Schluck näherte sie sich einem warmen und tröstlichen Patriotismus.
    »Übrigens«, sagte Rachael eine halbe Stunde später, als sie aufbrachen, »willst du nicht morgen Abend zum Essen kommen? Ich habe da zwei furchtbar nette Offiziere, die bald nach Übersee gehen. Ich finde, wir sollten alles tun, um ihnen die Sache zu erleichtern.«
    Gloria nahm dankend an. Sie notierte die Adresse – an [472] der Hausnummer erkannte sie einen eleganten Wohnblock in der Park Avenue.
    »War wahnsinnig schön, dich zu treffen, Rachael.«
    »Wirklich wunderbar. Wollte dich immer schon mal wiedersehen.«
    Mit diesen drei Sätzen war ein gewisser Abend in Marietta vor zwei Sommern verziehen, an dem Anthony und Rachael unnötig höflich zueinander gewesen waren; Gloria verzieh Rachael, Rachael verzieh Gloria. Ebenso wurde verziehen, dass Rachael Zeugin der größten Katastrophe im Leben von Mr. und Mrs. Anthony Patch geworden war…
    Indem sie mit den Ereignissen Kompromisse schließt, schreitet die Zeit voran.
    Captain Collins’ Avancen
    Die beiden Offiziere waren Captains einer beliebten Waffengattung, der Maschinengewehrtruppe. Beim Abendessen bezeichneten sie sich mit berechnender Gelangweiltheit als Mitglieder des »Selbstmördervereins« – damals bezeichnete sich jede obskure Waffengattung als »Selbstmörderverein«. Einer der Captains – Rachaels Captain, wie Gloria bemerkte – war ein großer, vierschrötiger Mann von dreißig Jahren mit Schnurrbart und hässlichen Zähnen. Der andere, Captain Collins, hatte ein rosiges, pausbäckiges Gesicht und die Angewohnheit, jedesmal, wenn er Glorias Blick auffing, hemmungslos zu lachen. Er verliebte sich auf der Stelle in sie und überschüttete sie während des Dinners mit geistlosen Komplimenten. Beim zweiten Glas Champagner [473] befand Gloria, dass sie sich zum ersten Mal seit Monaten köstlich amüsierte.
    Nach dem Essen kam der Vorschlag auf, gemeinsam irgendwo tanzen zu gehen. Die beiden Offiziere versorgten sich mit Flaschen aus Rachaels Anrichte – ein Gesetz untersagte den Verkauf von Alkohol an Militärangehörige –, und so gerüstet, brachten sie in mehreren glitzernden Lokalen am Broadway unzählige Foxtrotts hinter sich, wobei sie getreulich die Partner wechselten. Gloria wurde immer lauter und für den rosigen Captain, der es sich nur selten angelegen sein ließ, sein heiteres Lächeln abzustreifen, immer ergötzlicher.
    Um elf Uhr war sie zu ihrer großen Überraschung die Einzige, die bleiben wollte. Die anderen wollten in Rachaels Apartment zurückkehren – um, wie sie sagten, mehr Alkohol zu beschaffen. Beharrlich argumentierte Gloria, Captain Collins’ Flasche sei doch noch halb voll – sie habe sie eben erst gesehen –, doch als sie

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