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Die Schönen und Verdammten

Die Schönen und Verdammten

Titel: Die Schönen und Verdammten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: F. Scott Fitzgerald
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Kapital nur noch etwa sieben Jahre reichen würde. So trug Gloria Bitterkeit im Herzen. In einer Woche hatten sie sogar das Zweifache dessen ausgegeben, was das graue Feh gekostet hätte, und zwar bei einer ausgedehnten, ausgelassenen Feier, in deren Verlauf Anthony sich in einem Theater seines Mantels, seines Jacketts und seines Hemdes entledigt hatte und von einem Aufgebot an Platzanweisern hinausbefördert worden war.
    Es war November, vielmehr Altweibersommer, eine warme, warme Nacht – eigentlich überflüssig, denn der Sommer hatte seine Arbeit getan. Im Baseball hatte »Babe« Ruth zum ersten Mal den Rekord im Home-Run gebrochen, und in Ohio hatte Jack Dempsey Jess Willard den Wangenknochen gebrochen. Drüben in Europa hatte die übliche Anzahl hungernder Kinder aufgeblähte Bäuche, und die Diplomaten gingen ihrem herkömmlichen Geschäft nach, die Welt für neue Kriege sicher zu machen. In New York wurde das Proletariat »diszipliniert«, und die [506] Gewinnchancen für Harvard wurden im Allgemeinen mit fünf gegen drei notiert. Es war endgültig der Friede ausgebrochen, der Beginn einer neuen Ära.
    Oben im Schlafzimmer des Apartments in der 57. Straße lag Gloria in ihrem Bett und wälzte sich hin und her, dann und wann setzte sie sich auf und warf eine überflüssige Decke ab, und einmal bat sie Anthony, der wach neben ihr lag, ihr ein Glas Eiswasser zu bringen. »Vergiss nicht, Eis hineinzutun«, sagte sie mit Nachdruck, »wie’s aus dem Hahn kommt, ist es nicht kalt genug.«
    Als sie durch die dünnen Gardinen blickte, konnte sie am Himmel über den Dächern die runde Mondscheibe und dahinter den gelben Glanz vom Times Square sehen – und während sie die beiden ungleichartigen Lichter betrachtete, sann sie über ein Gefühl nach oder vielmehr über einen Komplex ineinander verwobener Gefühle, die sie schon den ganzen Tag über beschäftigt hatten, und am Tag davor, und schon zu der Zeit, als sie ihrer Erinnerung zufolge das letzte Mal klar und folgerichtig über etwas nachgedacht hatte – es musste damals gewesen sein, als Anthony in der Armee war.
    Im Februar würde sie neunundzwanzig. Der Monat nahm eine unheilvolle und unabwendbare Bedeutung an – und in diesen nebelhaften, halb fiebrigen Stunden fragte sie sich, ob sie ihre leicht ermattete Schönheit nicht schon längst verschwendet hatte, ob es überhaupt so etwas wie Verwendung gab für eine Eigenschaft, die von einer harschen und unabweislichen Sterblichkeit begrenzt war.
    Vor Jahren, als sie einundzwanzig gewesen war, hatte sie in ihr Tagebuch notiert: »Schönheit ist nur dazu da, bewundert und geliebt – vorsichtig gepflückt und einem [507] auserwählten Geliebten vor die Füße geworfen zu werden wie ein Strauß Rosen. Wofern ich überhaupt klar urteilen kann, kommt es mir so vor, als sollte meine Schönheit dazu verwendet werden…«
    Und jetzt hatte Gloria diesen ganzen Novembertag, diesen ganzen trostlosen Tag hindurch unter einem schmutzigweißen Himmel gedacht, dass sie sich womöglich geirrt hatte. Um sich die Integrität ihres ersten Geschenks zu bewahren, hatte sie nicht mehr nach Liebe Ausschau gehalten. Als die erste Flamme der Ekstase schwächer geworden, in sich zusammengesunken, erloschen war, hatte sie damit angefangen, sich etwas zu bewahren – aber was? Es verunsicherte sie, dass sie nicht mehr wusste, was sie da bewahrte– eine wehmütige Erinnerung oder irgendeinen tiefempfundenen und grundlegenden Ehrbegriff? Sie bezweifelte, dass auch nur im Geringsten irgendeine moralische Frage in ihre Lebensführung hineinspielte: sorg- und reulos den fröhlichsten aller Wege zu beschreiten und ihren Stolz zu wahren, indem sie stets sie selber war und das tat, was zu tun sie schön dünkte. Vom ersten kleinen Jungen mit breitem, steifem Kragen, dessen »Freundin« sie gewesen war, bis zum letzten gleichgültigen Mann, dessen Blick, wenn er auf ihr ruhte, wachsam und empfänglich war, hatte es nichts weiter gebraucht als jenen unvergleichlichen Freimut, den sie in einen Blick legen oder in einen zusammenhanglosen Satz einkleiden konnte – denn sie hatte stets in gebrochenen Sätzen gesprochen –, um unermessliche Illusionen, unermessliche Distanz, unermessliches Licht um sich her zu bewirken. Um in Männern Seelen erstehen zu lassen, um feine Glückseligkeit und feine Verzweiflung zu schaffen, musste sie [508] zutiefst stolz bleiben – stolz darauf, unverletzlich zu sein, aber auch stolz darauf, hinschmelzen zu können,

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