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Die Schönen und Verdammten

Die Schönen und Verdammten

Titel: Die Schönen und Verdammten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: F. Scott Fitzgerald
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küssen, und dem ebenso heftigen Verlangen, ihr wehzutun und zu schaden, schwankten – was ihm von seinem Verstand verblieben war, sehnte sich auf subtilere Weise danach, das erhabene Wesen zu besitzen, das in diesen drei Minuten aufgeleuchtet war. Sie war wunderschön – vor allem aber war sie gnadenlos. Er musste jene Kraft in Besitz nehmen, die es vermocht hatte, ihn fortzuschicken.
    Gegenwärtig hätte Anthony das so nicht in Worte fassen können. Seine geistige Klarheit, all jene unversieglichen Ressourcen, zu der ihm seiner Meinung nach die Ironie verholfen hatte, waren hinweggefegt. Nicht nur in dieser Nacht, sondern auch in den darauffolgenden Tagen und Wochen würden seine Bücher nur noch Mobiliar, seine Freunde nur noch Schemen sein, die in einer nebulösen Außenwelt wandelten, der er zu entfliehen trachtete – diese Welt war kalt und voll rauher Winde, er aber hatte einen kurzen [157] Augenblick lang in ein warmes Haus geblickt, in welchem Feuer loderten.
    Um Mitternacht merkte er, dass er Hunger hatte. Er ging hinunter in die 52. Straße, wo es so kalt war, dass er kaum sehen konnte; die Feuchtigkeit gefror auf den Wimpern und in den Mundwinkeln. Aus dem Norden war Trübsal gekommen, hatte sich auf die schmale, trostlose Straße gesenkt, wo schwarz vermummte Gestalten, die sich dunkel vom Nachthimmel abhoben, durch den heulenden Wind den Gehsteig entlangstolperten oder vorsichtig die Füße voranschoben, als glitten sie auf Skiern dahin. Anthony bog in die Sixth Avenue, er war so in Gedanken versunken, dass er nicht bemerkte, wie etliche Passanten ihn anstarrten. Sein Mantel stand weit offen, und der Wind schnitt ihm in den Leib, rauh und erbarmungslos wie der Tod.
    Nach einer Weile sprach ihn eine Kellnerin an, eine dicke Kellnerin mit schwarzgeränderten Augengläsern, an denen eine lange schwarze Kordel baumelte.
    »Bestellung, bitte!«
    Ihre Stimme kam ihm unnötig laut vor. Verärgert blickte er auf.
    »Wollen Sie nun bestellen oder nicht?«
    »Natürlich«, verwahrte er sich.
    »Hab dreimal gefragt. Ist schließlich kein Wartesaal hier.«
    Er sah auf die große Wanduhr und merkte erschrocken, dass es schon nach zwei Uhr war. Er war irgendwo in Höhe der 30. Straße. Einen Augenblick später entdeckte und entzifferte er den Halbkreis aus weißen Lettern auf der Fensterscheibe:
    [158] In dem Lokal hielten sich kaum mehr als drei, vier trübsinnige und halberfrorene Nachtschwärmer auf.
    »Bringen Sie mir Eier mit Speck und Kaffee, bitte.«
    Die Kellnerin, die mit ihrer Brille lächerlich intellektuell wirkte, warf ihm einen letzten angewiderten Blick zu und eilte davon.
    Gott! Glorias Küsse waren solche Blumen gewesen. Er vergegenwärtigte sich, als sei es bereits Jahre her, die tiefe Frische ihrer Stimme, die wunderbaren Umrisse ihres Körpers, die sich durch ihre Kleider abzeichneten, ihr lilienfarbenes Gesicht im Schein der Straßenlaternen – der Straßenlaternen!
    Wieder schlug das Elend zu und schichtete auf Schmerz und Sehnsucht eine Art Entsetzen. Er hatte sie verloren. Das war die Wahrheit – es ließ sich nicht bestreiten, nicht beschönigen. Doch nun hatte eine neue Idee seinen Himmel bewölkt – was war mit Bloeckman? Was würde sich jetzt ergeben? Hier war ein wohlhabender Mann, alt genug, um nachsichtig gegen eine schöne Ehefrau zu sein, ihre Launen zu hätscheln und ihrer Unvernunft nachzugeben, sie zu tragen, wie sie wohl getragen werden wollte – eine leuchtende Blume in seinem Knopfloch, geborgen und sicher vor allem, was sie fürchtete. Ihn beschlich das Gefühl, sie habe mit dem Gedanken an eine Heirat mit Bloeckman gespielt, und es war durchaus denkbar, dass ihre Enttäuschung über Anthony sie in einem plötzlichen Impuls in Bloeckmans Arme trieb.
    Die Vorstellung versetzte ihn in kindische Wut. Er wollte Bloeckman umbringen, ihn büßen lassen für seine abscheuliche Vermessenheit. Wieder und wieder sprach er diesen [159] Satz zu sich selbst, mit zusammengebissenen Zähnen und hass- und schreckerfüllten Augen.
    Hinter dieser obszönen Eifersucht war Anthony nun endlich doch verliebt, so wahrhaftig und zutiefst verliebt, wie es zwischen Mann und Frau nur möglich ist.
    Neben seinem Ellbogen erschien sein Kaffee und verströmte eine Zeitlang eine allmählich schwächer werdende Dampfspirale. Der Nachtkassierer an der Kasse blickte auf die reglose Gestalt am letzten Tisch, und als der Stundenzeiger der großen Wanduhr eben die Ziffer drei verdeckte, ging er mit einem

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