Die Schönen und Verdammten
Seufzer zu ihm hinüber.
Weisheit
Nach einem weiteren Tag legte sich seine Unruhe, und Anthony ließ wieder ein gewisses Maß an Vernunft walten. Er war verliebt – leidenschaftlich rief er es sich zu. Was ihm noch eine Woche zuvor wie unüberwindliche Hürden vorgekommen war – sein begrenztes Einkommen, sein Verlangen, unverantwortlich und unabhängig zu sein –, war in diesen vierzig Stunden vor dem Wind seiner Vernarrtheit zur bloßen Spreu geworden. Wenn er sie nicht heiratete, wäre sein Leben nur eine schwache Parodie seiner Jünglingsjahre. Um den Leuten ins Auge sehen und ein Dasein ertragen zu können, das ihn ständig an nichts als Gloria erinnerte, war es notwendig, Hoffnung zu schöpfen. So schöpfte er aus dem Stoff seiner Träume zäh und verzweifelt Hoffnung, eine zerbrechliche Hoffnung zwar, Hoffnung, die ein dutzendmal am Tag erschüttert und zerrieben wurde, eine Spottgeburt [160] der Hoffnung, aber dennoch eine Hoffnung, die seiner Selbstachtung als Muskel und Sehne dienen sollte.
Hieraus sprang ein Funke Weisheit, eine angemessene Selbsteinschätzung vor dem Hintergrund seiner müßigen Vergangenheit.
›Wir haben ein kurzes Gedächtnis‹, dachte er.
Und wie kurz! Im kritischen Augenblick betritt der Vorsitzende des Konzerns den Zeugenstand. Dem vermutlichen Täter, im Umkreis von Meilen von allen Rechtschaffenen verachtet, muss nur noch der letzte Stoß versetzt werden, um ihn hinter Gitter zu bringen. Man setze ihn auf freien Fuß– und in einem Jahr ist alles vergessen. »Ja, er hat mal in der Klemme gesteckt, nur eine Formsache, glaube ich.« O ja, wir haben ein sehr kurzes Gedächtnis!
Anthony hatte Gloria insgesamt ein dutzendmal gesehen, sagen wir, zwei Dutzend Stunden. Angenommen, er würde sie einen Monat in Ruhe lassen, keinen Versuch unternehmen, sie zu sehen oder zu sprechen, und jeden Ort vermeiden, an dem sie sich aufhalten mochte. War es nicht möglich, dass die rasche Folge der Ereignisse nach Ablauf dieser Zeit die Erinnerung an seine Person und mit dieser zugleich die Erinnerung an sein Vergehen und seine Demütigung aus ihrem Bewusstsein löschen würde, dies umso mehr, als sie ihn nie geliebt hatte? Sie würde ihn vergessen, denn für sie würde es andere Männer geben. Er schrak zusammen. Die Folgerung versetzte ihm einen Schlag – andere Männer! Zwei Monate – großer Gott! Lieber drei Wochen, zwei Wochen…
Dies ging ihm beim Auskleiden durch den Kopf, am zweiten Abend nach der Katastrophe, und nun warf er sich [161] aufs Bett, blieb leicht zitternd darauf liegen und sah zum Baldachin auf.
Zwei Wochen – das war schlimmer als überhaupt kein zeitlicher Abstand. In zwei Wochen müsste er ebenso an sie herantreten wie jetzt, ohne jede persönliche Ausstrahlung oder Zuversicht – wäre immer noch der Mann, der zu weit gegangen war und dann einen Augenblick lang, einen kurzen und doch ewigen Augenblick lang, gewinselt hatte. Nein, zwei Wochen war zu kurz. Der bittere Geschmack, den der Nachmittag bei ihr hinterlassen hatte, musste sich erst im Lauf der Zeit verlieren. Er musste ihr eine Frist einräumen, in der der Zwischenfall verblassen konnte, und eine weitere, in der sie – ganz gleich, wie flüchtig – wieder an ihn denken durfte, und zwar unter dem richtigen Blickwinkel, der seine Liebenswürdigkeit ebenso erkennen ließ wie seine Demütigung.
Schließlich setzte er als Frist, die seinen Absichten am besten entsprach, sechs Wochen fest und hakte die Tage auf einem Schreibtischkalender ab. Es stellte sich heraus, dass der Stichtag auf den neunten April fiel. Nun denn, an diesem Tag würde er sie anrufen und sie fragen, ob er sie besuchen dürfe. Bis dahin – Schweigen.
Nach dieser Entscheidung machte sich eine allmähliche Besserung bemerkbar. Endlich hatte er einen Schritt in die Richtung getan, welche die Hoffnung wies, und er erkannte, dass er bei ihrem Wiedersehen umso eher den erwünschten Eindruck auf sie machen würde, je weniger er über sie nachgrübelte.
Nach einer Stunde versank er in tiefen Schlaf.
[162] Die Frist
Obgleich sich für ihn die Glorie ihres Haars im Laufe der Tage merklich trübte und sich nach einem Jahr der Trennung womöglich ganz verloren haben würde, hielten die sechs Wochen dennoch viele scheußliche Tage für ihn bereit. Er fürchtete den Anblick von Dick und Maury, weil er sich unsinnigerweise einbildete, sie wüssten über alles Bescheid– wenn die drei sich aber trafen, war es Richard Caramel und nicht Anthony,
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