Die Schönen und Verdammten
sie zuflatterte. Gloria zog und zerrte, um sich zu befreien, und es kamen ihr Worte über die Lippen, die älter waren als die Genesis.
»Oh, du Untier!«, schluchzte sie. »Oh, du Untier! Oh, ich hasse dich! Oh, du Untier! Oh…«
Andere angehende Zugreisende auf dem Bahnsteig fingen an, sich umzudrehen und herüberzustarren; das Rattern des Zuges wurde hörbar und steigerte sich zu einem Getöse. Gloria verdoppelte ihre Anstrengungen, dann gab sie auf, und als die Lokomotive donnernd und fauchend in den Bahnhof einfuhr, blieb sie ob dieser Demütigung wehrlos zitternd und mit brennenden Augen stehen.
Leise, kaum hörbar in dem zischenden Dampf und den quietschenden Bremsen, ertönte ihre Stimme: »Oh, wenn es hier einen Mann gäbe, würdest du das nicht wagen. Du würdest es nicht wagen! Du Feigling! Du Feigling, oh, du Feigling!«
Anthony, stumm, selber zitternd, hielt sie gepackt. Er merkte, dass ihn Gesichter beobachteten, ein Dutzend von ihnen, eigentümlich ungerührt, Schatten eines Traums. Dann gaben die Glocken ein metallisches Scheppern von sich, das wie ein körperlicher Schmerz war, die Schornsteine schnauften in immer schnelleren Abständen zum Himmel auf, und in einem Augenblick des Lärms und grau qualmender Turbulenz fuhr eine Reihe Gesichter vorüber, [264] entfernte sich, verlor sich – bis plötzlich nur noch die Sonne da war, deren Strahlen schräg nach Osten über die Gleise fielen – das Getöse hatte sich verzogen und war nur noch als blechernes Donnergrollen zu hören. Er ließ ihre Arme los. Er hatte gesiegt.
Hätte er gewollt, hätte er jetzt loslachen können. Die Prüfung war bestanden, er hatte seinen Willen mit Gewalt durchgesetzt. Der Siege göttlichster ist das Vergeben.
»Wir mieten uns hier einen Wagen und fahren nach Marietta zurück«, sagte er mit feiner Zurückhaltung.
Zur Antwort ergriff Gloria mit beiden Händen seine Hand, führte sie an ihren Mund und biss ihn tief in den Daumen. Er bemerkte den Schmerz kaum; als er das Blut austreten sah, holte er geistesabwesend sein Taschentuch hervor und wickelte es um die Wunde. Auch dies war Teil des Triumphs, dachte er – es konnte nicht ausbleiben, dass sie ihm die Niederlage verübelte –, und daher nicht der Beachtung wert.
Sie schluchzte, beinahe tränenlos, heftig und bitter.
»Ich fahre nicht! Ich fahre nicht! Du – kannst – mich – nicht – zwingen – zu – fahren! Du hast – du hast jede Liebe abgetötet, die ich je für dich empfunden habe, und jede Achtung. Aber alles, was noch in mir ist, würde eher sterben, als dass ich mich vom Fleck rühre. Oh, wenn ich geahnt hätte, dass du Hand an mich legen würdest…«
»Du fährst mit«, sagte er grob, »und wenn ich dich tragen muss.«
Er drehte sich um, rief eine Droschke herbei und wies den Fahrer an, nach Marietta zu fahren. Der Mann stieg ab und riss den Schlag auf. Anthony wandte sich zu seiner [265] Frau und sagte mit zusammengebissenen Zähnen: »Wirst du wohl einsteigen? Oder soll ich dich hinein heben ?«
Mit einem unterdrückten Schrei ungeheurer Pein und Verzweiflung fügte sie sich und bestieg die Droschke.
Auf der langen Fahrt durch die zunehmende Dämmerung saß sie in ihre Ecke der Kutsche gekauert. Nur hin und wieder wurde ihr Schweigen von einem einzigen trockenen Schluchzer durchbrochen. Anthony starrte aus dem Fenster, sein Geist dumpf mit der sich allmählich wandelnden Bedeutung dessen beschäftigt, was vorgefallen war. Irgendetwas stimmte nicht – Glorias letzter Schrei hatte eine Saite angeschlagen, die mit widersinniger Unruhe in seinem Herzen nachschwang. Bestimmt hatte er recht – und doch, jetzt schien sie ein so jämmerliches kleines Ding, gebrochen und entmutigt, erniedrigt über das Maß hinaus, das ihr zu ertragen aufgegeben war. Ihre Kleiderärmel waren zerfetzt, ihr Parasol verschwunden, auf dem Bahnsteig vergessen. Er erinnerte sich, dass es sich um ein neues Kostüm handelte, und noch am Morgen, als sie aus dem Haus gegangen waren, war sie so stolz darauf gewesen. Er fragte sich, ob irgendjemand aus ihrer Bekanntschaft dem Vorfall beigewohnt hatte. Und ständig fiel ihm ihr Ausruf ein: »Alles, was noch in mir ist, würde eher sterben…«
Dies verwirrte ihn und stimmte ihn zunehmend besorgt. Es passte so gut zu der Gloria, die in der Ecke kauerte – keine stolze Gloria mehr, überhaupt keine Gloria, die er kannte. Er fragte sich, ob es denn möglich war. Auch wenn er nicht glauben mochte, dass sie aufhören würde,
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