Die schönste Zeit des Lebens
Hause genommen hatte. Da war er gerade zwölf, ging seit einem Jahr aufs Gymnasium. Sie lag auf Holzwolle in einem Pappkarton, der am Fußende seines Bettes stand. Er pflegte und fütterte sie, und wenn er sie streichelte, schnurrte sie. Aber eines Tages, als sie wieder gesund war, sprang sie aus dem Fenster und tauchte nie wieder auf.
Über Frau Abels Bett hängt ein großes gerahmtes Foto: zwei junge Männer in Ringelhemden, mit gezwirbelten Schnurrbärten, in der Mitte eine junge Frau, fast ein Mädchen noch, im eng anliegenden Paillettenkostüm. Dahinter ein Wohnwagen mit der Aufschrift Circus Abel . Vielleicht ist Frau Abel in jungen Jahren Trapezkünstlerin gewesen, hat hoch oben im Zirkuszelt die waghalsigsten Kunststücke gemacht. Und jetzt fällt sie aus dem Bett und bricht sich den Arm.
Als es an der Tür klingelt, ist es die Ambulanz. Ein hagerer Mann um die vierzig mit Schnurrbart und Brille und ein junger, so alt wie Robert, im weißen T-Shirt. Wo ist sie, fragt der mit dem Schnurrbart. Robert geht ihnen voran. Der Schnurrbärtige zieht die Bettdecke weg.
Aus dem Bett gefallen, sagt er. Rechter Unterarm gebrochen. Und dann zu seinem Begleiter: Die Trage.
Als die Ambulanz mit Frau Abel abgefahren ist und die Nachbarn, die neugierig auf die Straße getreten waren, wieder in ihren Häusern verschwunden sind, steht Robert vor der offenen Haustür, den Schlüssel in der Hand. Er zögert, geht dann doch noch einmal hinein, durch das Wohnzimmer ins Schlafzimmer. Das Bild, das über dem Bett hängt. Er betrachtet es eine Weile, dann nimmt er es von der Wand, steckt es in seinen Rucksack, schließt die Haustür und fährt mit dem Fahrrad davon. Vielleicht, denkt er, wird sie dieses Haus nie wieder betreten. Wer in ihrem Alter ins Krankenhaus kommt, das weiß er inzwischen, kommt selten nach Haus zurück. Wie die Frau Weyershaus neulich, die sich das Schlüsselbein gebrochen hatte. Eine harmlose Sache eigentlich, aber drei Wochen, nachdem sie ins Krankenhaus gekommen war, war sie tot.
7
ROSENDUFT . Edith Markmann steht im Garten über den Rosenstrauch gebeugt, ihr verhärmtes Gesicht wie von innen erleuchtet. Schön ist sie nicht, ist es vielleicht nie gewesen, aber jetzt, in der Morgensonne am Rosenstrauch, liegt eine Ahnung von Schönheit auf ihrem Gesicht. Sie fühlt es, braucht keinen Spiegel, einen Augenblick lang fühlt sie, dass auch sie schön sein könnte. Wie ein Schmerz ist das, wie ein süßer Schmerz. Die Augen geschlossen, steht sie ganz still, atmet den Duft, die Sonne, das frische Grün. Neunundvierzig ist sie, sechs Jahre jünger als ihr Mann, andere Frauen fangen in diesem Alter noch einmal ein neues Leben an.
Ihren Mann hat sie geheiratet, als sie dreißig war. Da war sie schon geschieden und arbeitete bei der Stahlbau im Büro. Rechte Hand des Personalchefs. Auf einer Betriebsfeier lernte sie Egon Markmann kennen, auch er geschieden und ohne Kinder wie sie. Als sie schwanger wurde, haben sie geheiratet. Kurz vor Roberts Geburt hat sie bei der Stahlbau gekündigt, verzichtete auf den ihr zustehenden Mutterschaftsurlaub. Nur noch Hausfrau und Mutter. Egon hatte das so gewollt, und ihr hatte das damals eingeleuchtet. Wieso eigentlich?
Zwei Jahre später zogen sie in das Haus in der Bredowstraße. Vorher hatten sie es aufwendig umgebaut, Dachgauben, verglaste Veranda. Einen Großteil der Arbeit hatte Egon selbst erledigt. Ein Jahr lang jedes Wochenende, im Sommer dazu immer noch zwei, drei Stunden nach Feierabend auf der Baustelle. Als sie nach der ersten Nacht im eigenen Haus auf der Veranda standen und in den Garten blickten, waren sie fast betäubt vor Glück. Sie waren eine glückliche Familie, so glücklich, wie man sein kann, wenn der Mann viele Überstunden machen muss, um die monatlichen Raten für die Bausparkasse zahlen zu können. Bis Egon den Unfall hatte und in Frühpension geschickt wurde. Seitdem arbeitet sie wieder, als Kassiererin zuerst bei Tengelmann , dann bei Aldi, seit einem Jahr bei einer Gebäudereinigungsfirma.
Jeden Tag verlässt sie kurz vor vier Uhr nachmittags das Haus und kommt am Abend um zehn Uhr zurück. Nur am Sonntag nicht. Egons Rente und das Geld, das sie verdient, davon können sie leben, trotz der monatlichen Raten für Zins und Tilgung des Bauspardarlehens. Geld ist für die Markmanns nicht das größte Problem, jedenfalls keines, das unlösbar wäre. Edith weiß auch nicht, wieso seit drei Jahren alles auf einmal anders ist. Sie erklärt es sich
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