Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die schönste Zeit des Lebens

Die schönste Zeit des Lebens

Titel: Die schönste Zeit des Lebens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Langen Müller
Vom Netzwerk:
Welach, Klein. Und am Nachmittag von drei bis fünf Vorlesen bei Frau Sternheim.
    Waschen, Windeln und Frühstück machen, sagt Herr Wesendonk. Und wenn noch Zeit bleibt, einmal Halma mit ihr spielen. Die Frau Abel ist eine nette Frau, redet ein bisschen viel, aber nett.
    Alle anderen kennt Robert schon. Herr Meinertz hat Parkinson und muss gefüttert werden, ist aber im Kopf noch völlig klar. Er wird wütend, wenn Robert nicht schnell genug begreift, was er haben will, sobald er mit zitternder Hand auf etwas zu deuten versucht. Frau Welach ist eigentlich kerngesund, aber sie schafft den Haushalt nicht, sagt sie. Aus ihrem Sessel am Fenster kommandiert sie Robert umher, lässt ihn die Spülmaschine ausräumen, den Küchenboden wischen, die Wäsche aus der Waschmaschine in den Trockner tun. Ihr Arzt, sagt sie, habe ihr schwere Arbeit verboten. Aber dann sieht man sie manchmal, wie sie zwei randvolle Plastiktüten mit Eingekauftem die Treppe hinauf in den zweiten Stock schleppt. Frau Klein ist schüchtern, sie bedankt sich immer, wenn Robert für sie einkaufen geht, weil sie nicht mehr gut laufen kann. Und immer muss er etwas mitbringen, was sie ihm dann schenkt, eine Tafel Schokolade oder Kekse oder einen Schokoriegel.
    Und Frau Sternheim? Frau Sternheim ist anders als all die alten Leute, die Robert sonst zu betreuen hat. Sie ist eine Dame, gebildet, neugierig, vielleicht würde er, wenn ihm das Wort zur Verfügung stünde, sagen: kapriziös. Robert wusste bisher nicht, dass es solche Frauen gibt. Sie gibt ihm Rätsel auf, macht ihm auch ein wenig Angst, aber er geht dennoch gern zu ihr. Bei ihr ist er zu Besuch, er ist ihr Gast, nicht ihr Betreuer. Das hat sie ihm gleich am ersten Tag gesagt: Ich möchte, dass Sie mir vorlesen, weil ich mit meinen Augen nicht mehr gut lesen kann. Alles andere schaffe ich allein. Und wenn ich es nicht mehr schaffe, lege ich mich hin und sterbe.
    Robert fährt den Wallgraben entlang, dann quer über das Gelände der alten Schokoladenfabrik in die Eisenbahnersiedlung. Rotdornstraße 11, ein niedriges grau verputztes Haus. Hier wohnt Frau Abel. Er klingelt, einmal, zweimal. Er hat einen Hausschlüssel, aber den soll er nur im Notfall benutzen. Er klingelt ein drittes Mal. Nichts rührt sich im Haus. Frau Abel schläft noch, denkt er und nimmt nun doch den Schlüssel, um die Haustür zu öffnen, obwohl Schlafen, streng genommen, kein Notfall ist.
    Frau Abel?
    Robert geht ins dämmrige Wohnzimmer, es ist leer, aber die Tür zum angrenzenden Zimmer ist nur angelehnt. Von dort hört er ein schwaches Geräusch, ein leises Stöhnen oder Wimmern. Er geht zur Tür, öffnet sie und sieht eine magere, alte Frau im Nachthemd auf dem Boden liegen, neben dem Bett liegt sie auf dem Rücken, die Augen geschlossen, das Gesicht vor Schmerz verzerrt.
    Frau Abel?
    Als Antwort nur ein Wimmern. Kurze Panik, nur eine Sekunde vielleicht, dann hat er sich im Griff, sich und die Situation. Er bückt sich, will sie anheben, sie ins Bett zurücklegen, unter die Decke, damit sie nicht friert. Aber als er sie berührt, zuckt sie zusammen, das Wimmern wird lauter. Und nun sieht er auch, dass der rechte Unterarm seltsam abgeknickt ist.
    Frau Abel, haben Sie Schmerzen?
    Ihre Lippen bewegen sich, aber er kann nicht verstehen, was sie sagt. Er beugt sich zu ihr herunter: Frau Abel?
    Kalt, flüstert sie. Mir ist so kalt.
    Robert nimmt die Bettdecke, breitet sie über die Liegende. Dann nimmt er das Kissen und legt es vorsichtig unter ihren Kopf. Die kahle Stelle am Hinterkopf. Vom vielen Liegen. Als er sie berührt, hat er auf einmal das Gefühl, als hielte er einen kleinen Vogel in der Hand, einen kleinen, nackten, schutzlosen Vogel. Er geht zurück ins Wohnzimmer, sucht das Telefon, findet es im Flur auf dem Garderobenschränkchen, wählt die Nummer der Ambulanz:
    Rotdornstraße 11, bei Abel. Ja, in der Eisenbahnersiedlung. Die alte Frau hat sich anscheinend den Arm gebrochen … Wann? … Keine Ahnung. Ich habe sie soeben gefunden.
    Er überlegt, ob er versuchen soll, sie zu waschen, damit sie sich im Krankenhaus nicht schämen muss. Aber dazu müsste er ihr die Windel ausziehen, und das würde ihr wieder Schmerzen bereiten. Eine Weile steht er über sie gebeugt und betrachtet sie. Sie hält die Augen geschlossen, ihr Atem geht schnell, bei jedem Ausatmen ein leises Wimmern. Ein verwundetes Tier. Die Katze fällt ihm ein, die von einem Auto überfahren worden war und die er unter der Gartenhecke gefunden und mit nach

Weitere Kostenlose Bücher